Jedes Mal, wenn ich Das Kunsturteil von Claus Borgeest aufschlage, stoße ich auf eine Stelle, die mich schlucken lässt. Nehmen wir zur Kenntnis, was Borgeest zur vielgepriesenen Freiheit der Kunst sagt. Sie sei eine Fiktion.
Die Freiheit der Kunst ist eine Fiktion, solange unter Freiheit die Möglichkeit verstanden wird, zu tun und zu lassen, was man will. Im Vergleich mit dem Atelier ist jede Bastelstube ein Hort ausschweifendster Ungezwungenheit. Die dem Künstler auferlegte Rolle des Außenseiters ist weit anstrengender und verpflichtender als jede einer festen Konvention unterworfene Daseinsform. Das ruinöse Trauma, etwas finden zu müssen, das man als Ausdruck des Eigenen ausgeben kann und das dennoch selbst in seiner Ungewöhnlichkeit den Erwartungen eines ganz bestimmten Publikums genügen muß, das Gebot, sich mit dem Durchvariieren dieser einmal gefundenen Ausdrucksform fortan begnügen zu müssen und sich anderen Gestaltungsweisen nicht zuwenden zu dürfen, und schließlich die Pflicht, wie sein eigenes Markenzeichen herumlaufen und ein längst unglaubwürdiges gewordenes und zur Clownerie depraviertes Rollenbild exhibieren zu müssen, ist nur erträglich bei einem Reflexionsniveau, welches es erlaubt, dies alles für pure Selbstbestimmung zu halten. (S.185)
Dem lässt sich nicht mehr viel hinzufügen, außer vielleicht, dass die Freiheit, so sie sich vermeintlich einmal eingestellt hat, keineswegs statisch bleibt, sondern in einen Wettlauf der Überbietung mündet, aus dem die als Sieger hervorgehen, die nach etlichen Vergleichsrunden noch freier als andere sind.
Wie frei bist du?
Während es für die Freiheit der Kunst offiziell keine Maßeinheit gibt, wird jeder wissen, der die Interna des Kunstbetriebs kennt, dass hinter vorgehaltener Hand ein fein abgestuftes Regelwerk existiert.
Wer Vollzeit arbeiten geht und nebenbei Kunst macht, kann allenfalls Hobbykünstler sein. Wer Teilzeitkunst macht, ist besser dran. Wer nicht gezwungen ist, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen und sich voll und ganz der Kunst widmen kann, macht sich des Dilettantentums verdächtig. Proust war so ein Fall. Auch wer von seiner Kunst durch Verkäufe leben kann, ist möglicherweise nicht frei genug. Er könnte bei der falschen Galerie, der falschen Sammlung oder, noch schlimmer, bei der falschen Stilrichtung sein und daher dem Kommerz anhängen. Selbst die scheinbar freiesten Künstler können immer noch, auch unbewußt, dem Markt, dem Geld oder dem Zeitgeist zuneigen.
Kurz, es kann in der Kunst nie frei genug zugehen. Ein Ende ist da nicht in Sicht. Auch wer vorgeblich nichts und niemandem schuldig ist, ist immer noch von der Meinung anderer abhängig, die sich ihre Demütigung nicht gefallen lassen. Und so geht es weiter, bis alle am Boden liegen.