Der Kultur gilt das Allerhöchste in den politisch geschwächten Zeiten. (Nietzsche)
Welche Erfahrungen ermöglich die Kunst, die nur auf sie selbst zurückgehen?
Diese Frage stellte mit Nachdruck Clement Greenberg und empfahl der Kunst seiner Zeit ein entsprechendes Reinigungsprogramm, auf dass sie sich aller kunstfremder Einflüsse enthalten sollte.
Wie wir nun wissen, hat sich die Kunst nicht allzulange an Greenbergs Forderung gehalten, sondern begann kurz nach dem Abstrakten Expressionismus, den der New Yorker Kritiker favorisierte, zu Beginn der 1960er Jahre unrein zu werden, in dem sie zuvorderst Elemente der Populärkultur und dem ihr entsprechenden Grafikdesign aufnahm. (- Dass sie mit diesem Schritt die Reinheit auf eine neue Stufe stellen sollte, wurde erst später deutlich. -)
Es folgten in den 1970er Jahren weitere Grenzüberschreitungen in Richtung Design, Wissenschaft, Alltagsgestaltung sowie allgemeiner Kritiken, Praktiken und Politiken.
Dass die Kunst sich programmatisch von sich selbst reinigen könnte, ahnte Greenberg wohl, wollte aber diese Entwicklung weder gutheißen noch begleiten und hoffte bis an sein Lebensende auf das Comeback einer reinen Malerei. (Arthur C. Danto hat diese Versteifung eindrucksvoll in seinem Buch Das Fortleben der Kunst geschildert.)
Die notwendige Konsequenz blieb Brian O’Doherty überlassen, der in seinem wegweisenden Aufsatz von 1976 nach dem Abschluß der Kunst von der Außenwelt im White Cube ihr Versinken in den weißen Wänden des Ausstellungsraums und dem Abschmelzen der Objekte auf die leeren Sockel beschrieb.
Von den 1980er Jahren an hat Michael Lingner, unter Bezug auf Luhmann, diesen Vorgang als Postautonomie theoretisiert, nach der die Kunst in ihrer Autonomiebestrebung an ein Ende gelangt, weitere Autonomie nur noch durch Aufgabe der Autonomie und folglich dem Anschluß an bislang kunstfremde Gebiete erlangen konnte.
Ist da noch jemand?
Waren zu Zeiten O’Dohertys und auch Lingners (er zitiert als Beispiel seiner Auffassung immer wieder die Offene Bibliothek von Clegg & Guttmann, 1991) entsprechende Praktiken sprichwörtlich noch in Randgebieten angesiedelt und folglich als Randphänomene anzusehen, ist im Jahre 2017 festzustellen, dass, – um ein Bonmot von Ad Reinhardt zu verdrehen, Kunst nicht mehr Kunst, sondern alles andere geworden ist.
Das belegt der nur oberflächliche Blick auf die zurückliegende Documenta, wie in einem Beitrag des Südwestrundfunks wiedergeben mit dem Titel Kolonialismus, Kapitalismus und Transgender. Es schrieb die Autorin:
Die sogenannte „Eröffnungskonferenz“ war politisch dermaßen korrekt, dass es kaum auszuhalten war. 13 Redner und Rednerinnen, darunter Männer, Frauen, Transgender, Schwule, Weiße und ein Schwarzer nutzten die Bühne vor allem, um sich politisch zu positionieren.
Nahezu folgerichtig und ’natürlich‘ wies der Documenta-Chef das Anliegen einer ‚ästhetischen Kraft‘ in der Kunst zurück: „If we understand aesthetical as superficial and pretty, of course“.
Das ist nicht neu. Das ist seit der 1997er Documenta von Catharine David, die diesbezüglich den Paradigmenwechsel einleitete, der Kerngedanke jeder folgenden Documenta.
„Wir sind woanders“ hieß mal vor 10 Jahren eine Konferenz Hamburger Offspaces, mit der sie sich gegen den institutionellen Mainstream absetzen wollten. Heute könnte, ja müsste geradezu „Wir sind woanders“ über dem Eingang der Documenta stehen, und hätte dafür sinnbildlich und brav der weitere Austragungsort Athen gestanden, dann wären vielleicht Kabul, Mogadischu oder Mossul noch besser gewesen. Auf jeden Fall für die abschließend angefallenen Schulden. 7 Millionen mehr in Kabul, – wer hätte dagegen Einwände erhoben?
Wie Ausführungen Gerhard Panzers nahelegen, vorgetragen auf der Tagung des Arbeitskreises Soziologie der Künste am 22.11. 2018 in Lünburg, besteht Grund zur Annahme, dass die Kuratoren der documenta zunehmend Unbehagen an dem Format einer solchen Großausstellung verspüren. Belege für diese Annahme finden sich in der fortlaufenden thematischen und räumlichen Zersplitterung der Ausstellung (mindestens seit der Zeit Enwezors), die im Jahre 2017 in krisenhaften Exstasen mündete. Während die Geschäftsführerin ihren Job verlor, denunzierte der Chef-Kurator Szymczyk die documenta (GmbH) als „ausbeuterisches Modell„!
Hier böte sich der Anlaß, einen Anschluß an die Postautonomie-Theorien Michael Lingners vorzunehmen, nach der Kunstausstellungen endlich in dem Stadium angekommen sind, das Lingner schon für die Kunst spätestens seit Ende der 1960er jahre diagnostiziert hatte. Eine Auflösung der Autonomie mit dem Versuch aufgrund einer letzten autonomen Geste, post-autonome Zwecke und Ziele für die Kunst zu erschließen. Mit den Beobachtungen Gerhard Panzers wäre nun festzustellen, dass die Ausstellung, insbesondere die documenta, seit mindestens 20 Jahren ebenso krisenhaft wie die Kunst reagiert und auf ihren Autonomieverlust kunstfremde Bereiche in ihren Präsentationskorpus zu integrieren sucht, die, vor allem bei post-kolonialen, aber auch anderen, schon in den 1990ern aufgekommenen Themen entlang der Linie Race-Class&Gender, nicht mehr genuin künstlerisch erscheinen, reflektiert und gerechtfertigt werden müssen. Die documenta würde, mit einem Wort von Pascal Unbehaun, zu einer Welt- und Universalausstellung transformiert.
Ich möchte nicht klagen, nicht kulturpessimistisch Verlust der Mitte! rufen, sondern die kurze Zeit bedenken, in der sich diese Entwicklung vollzog. War die Entgrenzung der Kunst, wie sie beispielhaft Anfang der 1990er Jahre in Deutschland mit Minimal Club und Bürobert in Berlin, mit dagegen-dabei in Hamburg, und schon institutioneller in den USA mit der Whitney Biennale 1993 und dem Programm Culture in Action (Chicago 1993) einsetzte, noch als emanzipatorische Kraft zu begrüßen gewesen, die sich gegen die zunehmende Verödung der Kunst in den 1980er Jahren richtete, als erstmalig in größerem Stil belanglose Malerei den Superreichen verabreicht wurde, so ist heute die einstmalige Grenze von ihrer Außenseite zu betrachten, hinter der diejenigen zurückgeblieben sind, die die damalige Fluchtbewegung entweder nicht mitbekamen oder aus unerfindlichen Gründen nicht mitmachen wollten. Sie sind zu Objekten nachgeordneter Künstlerverwaltung verfallen.
DJ Erfahrungen
Denn, die Offspaces, die erstmalig in den 1990er Jahren eine eigene Fliehkraft entwickelten, sind ebenso retardiert und zur reinen Disposition derer übergegangen, die immer noch um Ausdruck ringen, in Form und Farbe, Farbe und Form, Form und Farbe, Farbe und Form, – analog zur Erfahrung des DJs, der, aufkommend zu Beginn der 1970er Jahre Musik nur noch als vorgefundenes Material, als Anlass zu immer neuen Zusammenstellungen klanglicher Ereignisse betrachtete, deren Originalität hinter seiner eigenen zurückstehen musste. There is no problem I can’t fix, cause I can do it in the mix! (in ‚Last night a DJ saved my life‘)
Hatte Walter Benjamin schon 1934 in seinem Aufsatz Der Autor als Produzent die Künstler ermahnt, nicht zu blossen Lieferanten des Systems zu verkommen, ist unter den Bedingungen des globalen Kunstwarenwirtschaftssystems unter Zuhilfenahme informativer Transparenz (= Internet) genau das eingetreten. Zigtausend Biennalen müssen von Abermillionen Künstlern ‚just in time‘ beliefert werden, und weil das noch nicht ausreicht, braucht es noch ebensoviele Offspaces, die das verbleibende Heer der Künstler aufsaugen. Daher hatte Luhmann schon 1986 festgestellt: „Einmal in Gang gebracht, handelt es sich mithin um ein autopoietisches System, das sich selbst durch Herstellung von Kunstwerken speist.“ (in Das Medium der Kunst) Ebenso steht im Anti-Ödipus: „Es scheißt, es kackt, es fickt, es produziert…“, worauf anempfohlen wird, die Produktion der Produktion sowie die Konsumption der Konsumption zu untersuchen.
Kunst ist, was an seinem Platz fehlen kann
Nach dieser skizzenhaften Zustandsbeschreibung dürfte klar sein, dass die eingangs gestellte Frage nach der Möglichkeit einer Reduktion von Kunstwerken auf einen allgemeinen Kunstgrund im Sinne Greenbergs nur noch negativ beantwortet werden kann. (Wenigstens soweit es sich Werke im Sinne einer heroischen Kreativität (Reckwitz 2013) handelt.)
Der Verlust jeglichen Gegenstands (stichpunktartig durch Höke, 1969; Lippard, 1973; O’Doherty, 1976; Borgeest, 1979 und Weibel, 1989, dokumentiert) mündete in einem Abhandenkommen der Kunst durch die Kunst selbst, von Luhmann (1986) so diagnostiziert und definiert:
Die konstruktiven Freiheiten eines solchen Sozialsystems gründen sich darauf, daß nur noch Kommunikation funktionieren muß und alles weitere in den zweiten Rang einer dafür notwendigen Bedingung versetzen wird.
Je weniger Kunst Kunst ist und dennoch Rückhalt im Kunstbetrieb sucht, desto größer wird die Macht der Exegeten, die das einordnen, erklären und rechtfertigen müssen. Deren Kommunikation legt sich über die Werke und verschleiert sie.
Zwischenzeitlich müßte die Frage erlaubt sein, ob wir nicht schon beim dritten, vierten oder fünften Rang angekommen sind, hatte doch bereits der legendäre Frankfurter Kunstraum Gartners 1993 „erstklassige, zweitklassige und drittklassige Kunst“ versprochen, – ebenso auch die Überlegung, wozu es überhaupt noch Kommunikation bräuchte. Es muß einfach nur irgendetwas funktionieren, irgend ein X, damit das „autopoietische System“ am Laufen gehalten wird. Ein Perpetuum Mobile, ein Dromenon, eine Gebetsmühle.
Robert Pfaller hat die ebenso scharfsinnige, wie provokante Frage aufgeworfen, ob es Einbildungen ohne Träger geben könne. Wir dürfen feststellen, die zeitgenössische Kunst ist ein solcher Fall. Dazu schrieb Achim Wollscheid:
Es gibt Konsumenten staatsdidaktischer Massnahmen (s. Dokumenta), eine Art Innerlichkeits-Tourismus (wo schon der Künstler kein Selbst mehr hat, soll er wenigstens dazu dienen anderen eines zu sugerieren), Opfer von Stadt/Firmen/Marketing (s. Luminale), und Besucher, sprich Finanziers angeblicher […] Subkulturen.
Als Paradox gilt daher: es existiert Kunst (wenigstens als Label), obwohl keinerlei positive Formel zu ihrer Produktion angegeben werden kann. Auch keinerlei Subjekt und auch keine Rezeptionsformel. Die Krise des Produzenten ist die Krise des Rezipienten und umgekehrt. Nach einem Wort von R.U. Bühler ähnelt die moderne Kunst dem Konzept der Seele (ψυχή) in der antiken Philosophie. Ein schöner Gedanke, aber schwer nachzuweisen.
Mit Pfaller ist daher von einem vollkommen ideenfreien Funktionieren auszugehen, dessen rechter Glauben (in Anlehnung an Blaise Pascal) allein durch das formelhafte Ausüben bestimmter Verrrichtungen zustande kommen soll. Im Fall der Kunst, können wir folgern, durch beständigen Besuch von Ausstellungen, Umgang mit Künstlern, Kauf von Katalogen oder dem Abonnement einschlägiger Kunstforen.
Es ist der Verdienst von Peter Weibel im Rückgriff auf Baudrillard den Verlust des Kunstgegenstandes mit dem Verlust jeglichen Gegenstandes in der kapitalistischen Produktion verkoppelt zu haben. Im Kapitalismus existiere jeder Gegenstand nur als Ware unter dem Diktat des Tauschwertes, also Signifikanten.
Doch die Gegenstände sind rettungslos besudelt und entwürdigt. Es gibt Gegenstände nur mehr als Ware und zwar als Massenware. Indem Baudrillard gezeigt hat dass die Ware sich wie der Signifikant des Zeichens verhält ist auch der Schluss möglich dass die Gegenstände nur mehr als Zeichen fungieren und zwar als Zeichen unter dem Warengesetz. Die Ohnmacht der Gegenstände ist universal ihre Daseinsform banal.
Für die Kunst bedeutet das, dass ihre jeder Gegenstand, sei es als Thema oder Inhalt, sei es als Träger von Inhalten abhanden gekommen ist.
Die moderne Kunst sieht sich offensichtlich mit einer Welt konfrontiert in welcher die Gegenstände zweimal kollabiert sind. Einmal im schwarzen Loch der Ware und einmal im weißen Loch der Zeichen.
Kein Inhalt, keine Botschaft, keine Absicht, keine Information.
Dem entsprechend schrieb ein wenig später Boris Groys in „Die Zukunft gehört der Tautologie“ (1995):
Dabei sind alle Formen der Ironie, Sinn- und Formverschiebung oder des Spiels, d. h. alle Formen der Differenz, ausgeschlossen, denn falls sie auftreten, wird das Publikum sie als bewußte, absichtliche Strategie nicht einschätzen können, sondern nur denken, daß der Produzent dank seiner Natur oder seinem kulturellen Background immer schon »anders« ist. Das Neue oder das Differente ist unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich.
Die Folge ist nach Weibel ein melancholisches Stadium, das darin gipfelt, dass die Kunst selbst nicht mehr weiß, was ihr eigentlich fehlt.
Weibel übersieht allerdings, dass aus der bloßen Tatsache der Warenform nicht notwendigerweise ein ökonomischer Wert entspringt. Im Falle der Kunst gilt genau das Gegenteil. 99,999% aller verfügbaren Kunstwerke sind nicht nur viel zu billig, sondern schlichtweg unverkäuflich. Und gerade weil die meiste Kunst einen Wert nahe Null hat, existieren auf der anderen Seite die viel gescholtenen Exaltationen des Marktes. Sie sind nur konsequent, weil das der Preis für die ungeheuere Unsicherheit über den wirklichen Wert der Werke ist. Daher ist auch die Trennung in sogenannte Marktkunst und Kuratorenkunst unsinnig. Denn gerade weil es Kuratorenkunst gibt, ein in der Summe anonymer Prozess, in dem sich weder Produzent, noch Konsument kennen, sind extreme Spekulationen und Preisblasen erst möglich geworden. (In früheren Zeiten wurde Preis weitgehend zwischen Auftraggeber und Künstler festgelegt.)
Gerade weil Kunst fast nur noch kuratiert wird, entsteht auf der Produzentenseite ein riesiges Überangebot, das durch den Flaschenhals der Kuration drängt, die Preise drückt und die spekulative Unsicherheit erhöht. Die verabscheute Marktkunst ist dagegen eine Angelegenheit weniger Spezialisten.
Die Documenta der Gesellschaft
Wenn die hier nur stichpunktartig referierte Dialektik von Entgrenzungen, Abwesenheiten und Auflösungserscheinungen in der zeitgenössischen Kunst einen Schluß erlauben sollte, bei einem Minimalkonsens, nach dem Kunst außerhalb der Institutionen nicht mehr wahrnehmbar wäre, dann den, dass jede Praxis nur auf eine Praxis der Einbildungen der anderen hinausliefe. Kurz gefasst stellt sich die einstige Trias Künstler, Werk und Publikum so dar: die Künstler, ohne Selbst (Wollscheid), allenfalls Designer und Produktstrategen, wie auch ihre Exegeten und Vermittler. Die Werke leere Zeichen und die Rezipienten Kulturtouristen auf der Suche nach sich selbst.
Damit wäre, um in einem Bild von Robert Pfaller zu bleiben, nicht mehr Beten das Ziel, sondern Gebetsmühlen aufzustellen.
Als Alternative bliebe noch der Rückzug auf eine distanzierte Beobachtung, kunstsoziologisch unterfüttert, am Rande des eigenen Verschwindens, das sich reziprok aus dem Verschwinden der Kunst ergibt, ein geringfügiges Notat, das sich nennt die Documenta der Gesellschaft.