Erinnerung an die 1970er Jahre

Mein Vater, meine Schwester und ich 1973 in Frankreich

Mein Vater, meine Schwester und ich 1973 in Frankreich

Kürzlich las ich den Roman Die Jahre der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux, worin sie versuchte, die eigene Lebensgeschichte im Kontext der allgemeinen Geschichte Frankreichs und der Welt zu lesen und zu verstehen, von den 1950er Jahren bis fast in die Gegenwart. Dabei blieb sie in der Darstellung sachlich, zurückhaltend, unterkühlt, als ginge es nicht um ihr eigenes Leben, sondern um einen exemplarischen Fall, den es zu studieren gälte.

Ich möchte hier einen kleinen Versuch unternehmen, anhand der 1970er Jahre meine eigene Erfahrung der Geschichte nach dem Vorgehen Ernauxs zu prüfen.

1970

Die 1970er sind vielleicht mein erstes bewußt erlebtes Jahrzehnt. Zugleich markieren sie an ihrem Ende auch das Ende meiner Kindheit.

Ich möchte hier nur die von außen an mich herangetragenen Ereignisse dokumentieren, soweit sie sich in meinem heutigen Gedächtnis erhalten haben. Weniger mein Erleben und eigene Entwicklung. Von ihr nur das nötigste. Was hat die Zeit der 1970er Jahre bei mir hinterlassen?

Da ich, so weit es geht, auf Bestätigung meiner Zeit-Eindrücke verzichte, etwa durch Nachschlagen in Wikipedia, habe ich unsicheres grau markiert oder mit ein einem [?] versehen.

— Willy Brandt in Warschau [?], Ostpolitik.

Wir ziehen Ende des Jahres in ein kleines Dorf in der Eifel.

1971

Einschulung. Schultüte mit Fotos der Mondlandung geschmückt.

— Mondlandung (wahrscheinlich Apollo 15, 30.7.1971)

1972

— Olympiade in München. 1. Fernsehgerät. Farb TV von Nordmende. Heide Rosendahl begeistert.

— Geiselnahme in München [?]

1973

— Nahostkrieg [?]

— Ölkrise. OPEC

1974

— autofreier Sonntag. Schlittenfahrt über leere, verschneite Straßen in der Eifel.

— Brandt. Guillaume-Affäre. Fotostrecke im STERN.

Tod des Großvaters

— Fußball WM in Deutschland. Endspiel Deutschland – Holland. Live im TV. Deutschland wird Weltmeister. Beckenbauer küßt den Pokal.

— Staatskrise in Griechenland. Vetter Christian wird von der Tante zu uns nach Deutschland geschickt. Wohnt bei uns über den Sommer.

1975

BR, Vietnam, 1982, Boat People (1979-1984), file 01

Boatpeople. Die Katastrophen finden anderswo statt.

— Vietnam. Fall von Saigon.

— Boatpeople [?]

— Anschlag auf die OPEC, Wien [?]

Wechsel aufs Gymnasium

1976

— Olympiade. In Montreal [?]. Nicht mehr so interessant.

— 200 Jahre USA. Fotostrecke im STERN.

— Niki Lauda Unfall auf dem Nürburgring. Fotostrecke im STERN.

— Marssonde. Viking [?]. In Fischertechnik nachgebaut.

— Jimmy Carter wird Präsident. Der Erdnußfarmer. Fotostrecke im STERN.

— Mein Vater und andere Männer tragen ulkige Brillen und Koteletten.

— Biermann aus der DDR ausgebürgert

1977

— RAF Terror

— März: Buback.

Vier Wochen im Sommer bei der Tante in Griechenland. Eltern derweil in USA.

— Juli: Ponto. In der FAZ, die mein Onkel jeden Tag vom Postamt im nächstgelegenen Dorf abholte, wo sie mit 2 Tagen Verspätung eintraf. So erfuhren wir im Urlaub in Griechenland erst Anfang August von der Ermordung Pontos. Und ebenso vom Tod Elvis‘.

— September: Schleyer. Im Fernsehen laufen unentwegt, vor und nach den Nachrichten, Fahndungsaufrufe. In Postämtern und anderen öffentlichen Einrichtungen hängen Plakate, die vor ‚Terroristen‘ warnen. Gefühl einer nicht fassbaren Bedrohung.

— Oktober: Mogadischu. GSG 9.

— der Terrorismus bündelt und verstärkt die diffusen Ängste, die die Epoche durchziehen, allen voran die Kriegsangst, die aus dem Wettrüsten resultiert. Einige Symptome: die Tiefflieger. Mannöver (Panzer und Soldaten kommen ins Dorf), Sirenen (Atomalarm?). Bunker (in der Schweiz). Droht ein neuer Weltkrieg, Atomkrieg? Allgemeine Abneigung gegen Kommunisten oder ‚Linke‘.

Meine Mutter:

Wir machen es uns noch schön, bevor die Russen kommen.

1978

Geburtstagsrunde

Bürgerliches Idyll. Mein 13. Geburtstag.

— Italien. Rote Brigaden. Aldo Moro [?]

— Fußball WM in Argentinien. Nicht mehr so interessant.

— 2 Päpste. Zuerst JPI, der „lächelnde Papst“. Dann, 6 Wochen später JPII, aus Polen(!).

1979

— Vietnam marschiert in Kambodscha ein und beendet das Regime von Pol Pot

— Winterkatastrophe in Norddeutschland

Umzug vom Dorf in die Stadt. Ende der Kindheit.

— Revolution im Iran. Wir bekommen in der neuen Schule einen jungen Perser als Mitschüler, dessen Eltern vor Chomeini geflohen waren. Im TV wird verstärkt über den Regimewechsel berichtet. Islamisches Recht. Todesurteile. Verursacht Verstörung, weil man den Charakter der ‚Revolution‘ nicht einordnen kann. Passt nicht in den Ost-West Konflikt.

— Thatcher [?]

— Atomunfall in USA, Three Mile Island [?]

— im Fernsehen erscheint vermehrt FJ Strauß. Die Erwachsenen sagen, er wäre nicht OK.

— Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan

Undatiert

— Tod Pompidous. (Erinnere noch die Nachricht in der Zeitung, die im Schraubenladen auslag.)

— Tod Wernher von Brauns. (Erinnert wahrscheinlich wegen Mondlandung.)

Fernsehen

— Serien (für Kinder) Anfang der 1970er: Tarzan, Bonanza, Black Beauty, Raumschiff Enterprise

— Karl May Filme. Winnetou und Old Shatterhand.

— Boxkämpfe mit Muhammad Ali. Ich darf deswegen mit meinem Vater lange aufbleiben. Ali im Kongo. 1974 [?]

— im dritten Programm: Skigymnastik. Französischkurs „Les Gammas“.

— in der Schule (1978) Fernsehmathe. Hat meinen Zugang zu Mathematik nachhaltig zerstört.

— Unterhaltung: Wim Thoelke (Der Große Preis), Dalli dalli, Didi von Hallervorden, Klimbim, Loriot.

Konsum

— Farb TV (1972)

— im nächstgrößeren Ort machte Anfang/Mitte der 1970er der erste Aldi auf. Supermärkte entstehen und werden immer größer.

— Stereo Anlage (1976)

— Spülmaschine [?]

— Wäschetrockner [?] … Beides ungeheuere Anschaffungen in dem kleinen Dorf.

— erstes Auto nach dem Käfer Audi 80 oder Audio 100

— später Peugeot 604 (vlt. 1978)

— Mode aus Italien. Von Urlaubsreisen mitgebracht.

— Digitaluhren (Leuchtziffern) und Taschenrechner

— erste eigene Schallplatte (Pink Flyod, 1979). Musik tritt in mein Leben. Wunsch, ein Tonbandgerät zu besitzen.

Urlaub

— im Sommer Frankreich, Italien, Schweiz, Belgien, Holland, Griechenland. Meine Eltern kombinierten Bildung (Besuch von Kirchen, Museen, Ausstellungen, Gedenkstätten, Schlössern) mit Strandurlaub. Keine Pauschalreisen. Kein Camping. Mit einer Ausnahme (Schweiz, 1979) keine Gruppenreisen.

— im Winter Skiurlaub in der Schweiz (Grindelwald, Davos)

Kultur

— wenig aktuelle Musik. Meine Eltern hörten und besaßen Schallplatten deutscher Schlagersänger (Reinhard Mey, Udo Jürgens), auch italienische und französische. Keine Rock- oder Popmusik.

— Opernmusik auf Schallplatte (Vorliebe meines Vaters). Andere Klassik: Mozart und Beethoven.

— die regionale Rhein-Zeitung und die überregionale FAZ. Gelegentlich Stern und Spiegel. Manchmal Playboy.

— die schweizer Kunstzeitschrift DU

— aus Frankreich und Belgien für mich ‚Tim und Struppi‘. Damals noch wenig bekannt.

— hin und wieder Besuch von Ausstellungen im Köln-Bonner Raum. Mehr aber im Urlaub.

— Musikunterricht (Blockflöte, Akkordeon, Klavier)

— Reitunterricht (wegen dem Land)

— in der Stadt (1979) dann Tennis



Resümee

Ich weiß nicht, ob ich viel oder wenig aus den 1970er erinnere, mir fällt jedoch auf, wie stark meine Wahrnehmung äußerer Ereignisse vom Fernsehen geprägt ist. Des weiteren noch von der Zeitschrift STERN. Und das, obwohl beide Medien bei meinen Eltern wenig Beachtung fanden. Meinen Vater erinnere ich erst in späteren Jahren als den typischen Mann, der im Sessel vor dem Fernseher sitzt. In meiner Kindheit sah ich ihn so kaum.

Eine Erklärung mag damit zusammenhängen, dass ich in dieser Zeit noch wenig mit Text in Berührung kam, jedenfalls nicht in Bezug auf die Wahrnehmung der Außenwelt. An der FAZ, die sowieso damals wenig Bilder enthielt, dürfte mich kaum der Text interessiert haben. Ich war am Ende des Jahrzehnts erst 14 Jahre alt. Fernsehen und Illustrierte kommunizierten vorwiegend durch Bilder, deren Konsum wenig Erklärung und Kontextverständnis abverlangte. Dass sie zuerst, gerade für ein Kind, für sich selbst standen, dürfte ihre Wirkung noch verstärkt haben. Wie erging es wohl Kindern vor dem Fernsehen?

Die Welt vorwiegend durchs Fernsehen wahrzunehmen, das bedeutet notwendig auch eine distanzierte Weltsicht (was hier vielleicht an die Sicht Annie Ernauxs anschließt), der die persönliche Erfahrung abgeht. Vielleicht damit auch typisch für eine Kindheit im Nachkriegsdeutschland und dazu noch auf einem kleinen Dorf in der Eifel. Die großen Tragödien spielten sich anderswo ab. Selbst die vielleicht deutlichste, wenn auch nicht persönlichste Bedrohung, – die durch den Terrorismus, blieb diffus und unkonkret. Die Ermordung Pontos brach in die Idylle des griechischen Sommers ein, wie das ferne Grollen eines Gewitters, dessen böse Ahnung man fürchtet und dann erleichtert vorüberziehen sieht.

Die 1970er Jahren fanden nicht statt, sollte ich vielleicht deswegen schreiben. Aber das ist nicht wahr, sie bleiben als dunkler Schatten, als Schleier der Bilder zurück. In mir.

  

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