Die Tage entdeckte ich bei Twitter einen Beitrag des Soziologen Dirk Baecker, der zwei interessante Gedanken enthielt, den der Gegenproduktivität und den der von Foersterschen Vermutung (von Foersters conjecture). Aus der Kombination beider Gedanken sollte sich eine Aufgabe der Kunst ergeben: der der Enttrivialisierung. Ist das schlüssig?
Quelle: https://kure.hypotheses.org/1059
Es postulierte darin Dirk Baecker:
Die These dieses Artikels ist, dass die Kunst, verstanden als Funktionssystem der Gesellschaft, beziehungsweise die Künste, verstanden als Praktiken der Auseinandersetzung mit der Einheit der Differenz von Sinn und Sinnlichkeit, von Kommunikation und Wahrnehmung, einen wesentlichen Beitrag zur Enttrivialisierung der Menschen und damit zum Wiedergewinn eines Gefühls der Kontrolle über das Gesamtsystem der Gesellschaft leisten.
Als Prämisse diente ihm das Konzept der Gegenproduktivität bei Ivan Illich:
Gegenproduktivität ergibt sich aus Prozessen der Institutionalisierung von Schulen, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen, die sich, je weiter sie sich entwickeln, umso mehr gegen ihre ursprünglichen Absichten wenden. Schulen verdummen, Krankenhäuser machen krank, Armeen vernichten, was sie verteidigen sollen, Behörden blockieren die politischen Spielräume, die sie bereitstellen sollen, kulturelle Einrichtungen ersticken die Phantasie, die sie wecken sollen, Autos vergrößern den Abstand zwischen den Menschen, den sie verringern sollen, usw.
Der Kybernetiker Heinz von Foerster soll aus Illichs Argument eine Vermutung entwickelt haben, die sich aus seiner Untersuchung maschineller Abläufe und ihrer Unterscheidung in triviale und nicht triviale Maschinen ergab. Diese Vemutung gab Baecker so wieder:
Unter der Annahme, dass die Beziehungen zwischen den Menschen mehr oder minder rigide beziehungsweise trivial im Sinne von vorhersehbar sein können, ist zu erwarten, dass das Verhalten der Gesellschaft jedem einzelnen umso unkontrollierbarer erscheint, je trivialer die Beziehungen unter den Menschen sind.
Und als Gegenmittel gegen die drohende Trivialisierung, so Baecker, sei die Kunst besonders gut geeignet.
Kunst ist trivial und öde, oder nicht?
Ausgehend von meinen eigenen Erfahrungen will mir nicht einleuchten, warum Kunst derart privilegiert sein soll. Mir scheint dagegen, dass beide Prämissen Baeckers genau das Gegenteil seiner Argumentation nahelegen. Die folgenden Gedanken sind als Anstöße zu weiterer Forschung zu verstehen:
1) Kunst ist auch ein Teil der der Gesellschaft, wie Krankenhäuser, Schulen, Bildungseinrichtungen usw. Warum sollte sie daher von Illichs Konzept der Gegenproduktivität ausgenommen bleiben? Erscheint sie nicht of genug beliebig, konventionell, inhaltsleer, banal und phrasenhaft?
Welche ernsthaften Gedanken haben Künstler in den letzten Jahren hervorgebracht, die nicht schon an anderer Stelle existiert hätten? Ist irgendeine Form von Emanzipation von den Künsten zu erwarten? Wo, bitte? (Es bleibt auch unklar, worin Dirk Baecker die besondere Irritationsfähigkeit der Künste begründet sieht.)
Wenn jemand schreibt, Kunst irritiere, dann klingt das so, als wäre sie eine Art Reizgas. Aber so funktioniert das nicht.
Kunst irritiert nur diejenigen, die vorab bereit waren, sich irritieren zu lassen und darauf entsprechend konditioniert haben.
Schon vor mehr als 30 Jahren bemerkte der Philosoph Rudolf Burger:
“Dass sie [die Kunst] heute ein breiteres Publikum findet denn je, dass Ausstellungen, Museen, Konzerte Besucherrekorde melden […], ist kein Gegenargument, sondern bestätigt die These. Man sucht in der Kunst wieder ein Palliativ und möchte sich bei ihr erholen. Das zeigt bloss, dass sie harmlos geworden ist und dafür klopft man ihr auf die Schulter. […] Als die Kunst der Moderne noch wahrhaft erregte, war sie eine Serie elektrischer Schläge, keine angenehme Kitzelei. Platz zum Ausruhen bot sie nicht. Heute sind ihre Schocks zur Gewöhnung geworden und stumpf gegen jene, die man sonst erlebt.”
Becksche Vermutung
2) Müsste nicht von Foersters Vermutung, ernst genommen, vom Zustand der modernen Kunst als kompletter Irregularität auf die Beziehung ihrer Teilnehmer untereinander, als triviale, schließen lassen?
- (Becksche Vermutung)
- Oder umgekehrt, weil es zwischen den Partizipanten im System der modernen Kunst so trivial und inhaltsleer zugeht, ist mit von Foerster naheliegend, dass das System so chaotisch und repressiv ist, wie es sich gibt.
Wer sich schonmal mit einem Künstler, einem Kurator, Galeristen oder anderem Vertreter des Kunstbetriebs unterhalten hat, wird festellen, dass sie schlicht nichts zu sagen haben. Zumindestens der Großteil von ihnen. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, im Hinterzimmer quasi, fallen sie dann übereinander her und kratzen sich die Augen aus.
Natürlich wäre auch zu fragen, warum die meisten Künstler trotz der ihnen von Herrn Baecker zugesprochenen Enttrivialisierungsleistung arm bleiben? Offensichtlich schätzt die Gesellschaft ihre Arbeit wenig und hält sie entsprechend für…, ja, trivial. Womit dann ihre geringe Entlohnung einherginge.
Leider konnte ich zu von Foersters Vermutung keine Quellen aus erster Hand einsehen. Es bleibt daher ein stückweit Unsicherheit, ob ich den Gedanken von Foersters richtig verstanden habe. Sollte dies jedoch der Fall sein, wäre ein weiterer Einblick in die Fragestellung gewonnen, warum die Künste, entgegen der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung, in der Breite von Unruhe, Instabilität und Anomie geprägt sind.
Weitere Quellen
— Gespräch zwischen Stefan Beck und Stefan M. Seydel auf WikiDienstag/Youtube
— Das Seminar auf Radio X vom 9.7. 21 ab etwa der 24. Minute.