Niemals aufgeben – eine weitere Trope zur Rechtfertigung der Kunst

Bernardine Evaristo, Manifesto

Bernardine Evaristo, Manifesto

Es gibt nach Max Weber und folgend Boltanski/Chiapello auch einen Geist der Kunst, der erklärt und rechtfertigt, warum es sinnvoll und geboten ist, an die Kunst zu glauben, sich für die Kunst zu verwenden, ja aufzuopfern. Zu den prominenten Tropen dieses Zusammenhangs gehört auch das Gebot: ›Niemals aufzugeben‹.

Eine Materialsammlung – punktuell

›Niemals aufgeben‹, diese Forderung stellen Künstler vielfach an sich selbst, teils aber auch an andere (wie ein Kalenderspruch), als Durchhalteparole, als Glaube an einen wie immer ausfallenden ›Endsieg‹. Als Abgrenzung zu weniger fordernden Berufen.

Ausgangspunkt meiner neuerlichen Untersuchung war ein Radiobeitrag über die britische Schriftstellerin Bernardine Evaristo, mir bislang unbekannt, die kürzlich ein Buch mit dem Titel ›Manifesto – on never giving up‹ veröffentlichte.

https://www.rbb-online.de/rbbkultur/radio/programm/schema/sendungen/weiter_lesen/archiv/20220129_1700.htm

https://de.wikipedia.org/wiki/Bernardine_Evaristo

https://bevaristo.com/

Notizsammlung 1 zu Niemals aufgeben

Notizsammlung 1 zu Niemals aufgeben

›Niemals aufgeben‹, als Betonung der Besonderheit der Kunst. Einmal Künstler, immer Künstler. (Das ist kein normaler Beruf. Eine Berufung.)

›Niemals aufgeben‹, als Abgrenzung zu anderen Berufen, in denen Aufgabe möglich und gewöhnlich ist. Wenn sich das Geschäft nicht lohnt. Da das ›sich lohnen‹ in der Kunst keine Rolle spielt, kann es auch kein Kriterium für eine Aufgabe sein. Wer, wie die meisten Künstler, sein ganzes Leben von Anfang bis zum Ende wirtschaftlich erfolglos bleibt, kann daraus auch keinen Grund zum Aufgeben finden. Allen Kollegen geht es ebenso. Niederlage und Misserfolg werden allenfalls verschleiert.

Trotzdem bleibt damit die Frage, wieso man dann extra das ›Niemals aufgeben‹ herausstellen muss (so wie es Frau Evaristo tut)? Lauert da vielleicht doch eine Gefahr, dass ein bestimmter Zustand, der ökonomische?, der psychische? zum Aufgeben zwingen könnte. Was wäre so schlimm daran? Würde ein ungerechtfertigtes, vielleicht zu frühes Aufgeben, diesen Sonderstatus der Kunst in Frage stellen, nach der die ökonomische Lage kein Kriterium für die Fortführung der Künstlerexistenz sein darf?

Notizsammlung 2 zu Niemals aufgeben

Notizsammlung 2 zu Niemals aufgeben

›Niemals aufgeben‹, als Drohung. Gegen andere Künstler, gegen den Betrieb überhaupt. Als Ausdruck der Hyperkonkurrenz (s.a. P.M. Menger), die darin herrscht. Ich halte länger durch als Du. Ihr bekommt mich nicht klein. (Sich selbst als unternehmerisches, dereguliertes Selbst begreifen. Der eigenen Selbst-Prekarisierung [Lorey, 2006] zustimmen.)

So sagte Frau Evaristo im Radio über den Booker Preis: „aber wenn ich in die engere wahl komme dann denke ich ich werde ihn bekommen ich bin nicht in der lage für mich eine niederlage vorauszusagen ich denke mir ja ich werde diesen preis gewinnen ich bin in die engere oder breitere wahl gekommen und ich werde ihn gewinnen […] aber ich kann mir nicht vorstellen dass ein preis für den ich in die engere wahl gekommen bin nicht meiner sein wird“ (Sendeminute ab 40:45)

Frau Evaristo hatte sich sogar mithilfe eines Coachs und eines speziellen Visualisierungsverfahrens auf den Erwerb des Preises mental vorbereitet. Weder sie noch die Radiomoderatorin problematisieren einen Betrieb, in der die Karriere, ja das Lebensglück, von einem einzigen Preis abhängt.

›Niemals aufgeben‹, als spezielle Form der Lohndumpings. Je länger man durchhält, um Anerkennung im Kunst- oder Literaturbetrieb zu erhalten, desto geringer fällt die Anerkennung aus, wenn man sie in Vergleich zu den Jahren setzt, die man gewartet hat. Daher immer die Erwartung, dass der auf einen Preis folgende Karriereschub die vorausgegangenen Verluste mehr als wett machen kann. Frau Evaristo war immerhin 60 als sie den Booker Preis bekam.

›Niemals aufgeben‹, als Form des Dopings. Mit negativem Vorzeichen. Eine Art Hungerkunst.

›Niemals aufgeben‹, als Negation der allgemeinen Chancenlosigkeit in den Künsten. Eigentlich müsste es heißen: Es ist zum Aufgeben. Alle Bedingungen sprechen dafür.

Man bräuchte sich nicht darüber aufregen, wenn man die Einstellung von Frau Evaristo als eine Art von Extremsport (eine Fastenkunst?) betrachtete, die nur einigen wenigen möglich ist. Tatsächlich richten sich ihre Durchhalteparolen nicht nur an alle anderen Künstler, von den es schon eine große Zahl gibt, sondern darüber hinaus an die gesamte Gesellschaft, der sie sich als vorbildliche Haltung empfiehlt: Seht her, ich kann das schaffen, ich kann das nahezu unmögliche schaffen. Und ihr könnt das auch. (Der Beitrag im Radio bleibt in seiner Wertung dazu ambivalent. Einerseits neigt er dazu, die Sonderrolle der Künstlerin herausstellen, andererseits feiert er ihren Erfolg, womit er sie als Vorbild in die Reihe anderer stellt.)

Nachdem neulich (10.6.23) eine Verlegerin im Radio ›Niemals aufgeben‹ zu ihrem Lebensmotto erklärt hatte, fragte ich mich, wie diese Einstellung in die Welt kommt. Entsteht sie schon auf der Kunsthochschule? Das wäre seltsam. Denn weniger Anforderung als dort, samt der Furcht, daran zu scheitern, ist kaum denkbar. Da machte so eine verbissene Haltung wenig Sinn. Dann kann sie nur später entstanden sein, im Laufe des Künstlerlebens, das in aller Regel von wenig Anerkennung und Gratifikation gekennzeichnet ist.

  

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert