Dass die Corona-Pandemie und ihre Folgen auch Spuren im Diskurs der Naturwissenschaften hinterlassen, dürfte nicht groß überraschen. Gerade die Entwicklung der Corona-Impfstoffe und ihre breite Anwendung steht im Zentrum der Auseinandersetzung.
Wie sollten sich Laien dazu verhalten?
Ich war lange zögerlich, mich zu positionieren, weil ich dachte, dass ich nicht genug Fachwissen besitze, um wissenschaftliche Aufsätze hinterfragen zu können. Ich ging davon aus, dass die Nachrichtenlage in den allgemeinen Medien etwaige Bedenken gegenüber Corona-Impfstoffen schon angemessen kommunizieren würde.
Doch, als mir kürzlich ein Freund einen Artikel schickte, der seine Befürchtungen gegenüber Impfungen und ihren Nebenwirkungen untermauern sollte, wollte ich selbst versuchen, mir ein Bild von der Lage zu machen.
Es ging um einen wissenschaftlichen Aufsatz, der kürzlich in der Zeitschrift Food and Chemical Toxicology veröffentlicht wurde. Sein Titel lautete: Innate immune suppression by SARS-CoV-2 mRNA vaccinations: The role of G-quadruplexes, exosomes, and MicroRNAs.
Darin wurde laut Abstract behauptet, dass eine Impfung mit mRNA „potential profound disturbances in regulatory control of protein synthesis and cancer surveillance“ verursache und dass diese „disturbances“ „potentially have a causal link to neurodegenerative disease, myocarditis, immune thrombocytopenia, Bell’s palsy, liver disease, impaired adaptive immunity, impaired DNA damage response and tumorigenesis.“
Selbst als Laie verstand ich, dass es sich trotz des zweifach eingeschobenen „potential“ um schwerwiegende Vorwürfe handelte.
Wie damit umgehen?
Dass der Hinweis auf dieses Paper von einer wenig vertrauenswürdigen Quelle, dem Achgut Blog, das dem Verdacht unterliegt, der Querdenker-Bewegung nahezustehen, stammte, wollte ich vor der Hand außer Acht lassen und nur den allein informativen Gehalt betrachten.
Eine grobe Übersicht über den Artikel zeigte mir schnell, dass ich über keinerlei Wissen verfügte, die dort aufgestellten Thesen in Frage zu stellen.
Zuerst warf ich einen Blick auf das Journal, Food and Chemical Toxicology. Obwohl mir unbekannt, schien es nach einem Eintrag auf Wikipedia seriös zu sein, wenngleich auch nicht sonderlich profiliert. Auch die Daten zum Herausgeber José L. Domingo, einem spanischen Wissenschaftler, zeigten auf den ersten Blick keine Auffälligkeiten.
Die Autoren der Studie
Sodann versuchte ich mehr über die Autoren der Studie herauszufinden.
Stephanie Seneff
https://en.wikipedia.org/wiki/Stephanie_Seneff
„Working primarily in the Spoken Language Systems group, her research at CSAIL relates to human-computer interaction, and algorithms for language understanding and speech recognition. In 2011, she began publishing controversial papers in low-impact, open access journals on biology and medical topics;[…]“ Diese Vorwürfe werden im weiteren bei Wikipedia ausgelegt.
Greg Nigh
https://www.portlandnaturalhealth.net/dr-greg-nigh-nd-lac
„Dr. Nigh is widely respected in the naturopathic profession.“
Naturopathic? Auf Deutsch wird das mit Naturheilkunde übersetzt.
Anthony M. Kyriakopoulos
Auf der Seite https://www.researchgate.net/profile/Anthony-Kyriakopoulos erklärt Herr Kyriakopoulos:
„I am the President of the Hellenic Society of Taurine and Fellow of the Institute of Biomedical Sciences UK.“
Taurin ist ein Stoff, der gerne in Energy Drinks verwendet wird. Laut Wikipedia ist es für die menschliche Ernährung nicht nötig, da es der Körper selbst bilden kann.
Was genau Herr Kyriakopoulos mit „Fellow of the Institute of Biomedical Sciences UK“ meint, bleibt unklar. Das IBS ist „the professional body for biomedical scientists in the United Kingdom.“ Damit wäre es eine Art Berufsverband und Herr Kyriakopoulos ein einfaches Mitglied. Über seine besondere Qualifikationen mag das eher wenig aussagen.
Die im Paper zu Herrn Kyriakopoulos angegebene Institution, das Nasco AD Biotechnology Laboratory, vermerkt auf seiner Webseite:
„Novel ingredients for the cosmetic industry“
Peter A. McCullough
Amerikanischer Kardiologe.
https://en.wikipedia.org/wiki/Peter_A._McCullough
„During the COVID-19 pandemic, McCullough has promoted misinformation about COVID-19, the COVID-19 vaccine, and COVID-19 treatments.“
Die im Paper für Herrn McCullough angegebene Institution Truth for Health Foundation versteht sich als „public charity incorporated in Arizona„.
Was immer diese Charity genau macht, sie scheint mir aus ihrer Selbstdarstellung nicht unbedingt prädestiniert zu sein, über die Wirkung von mRNA-Impfstoffen Auskunft geben zu können.
Stattdessen wird auf der Webseite dazu aufgerufen „Report Vaccine Injury“, was aus mehreren folgenden Seiten nahelegt, dass die Foundation Impfungen skeptisch sieht.
Ein Artikel von McCullogh, der den Zusammenhang von Myocarditis (Herzmuskelentzündung) und Impfung bei Jugendlichen belegen sollte, wurde vom Verlag der Zeitschrift nach anfänglicher Publikation zurückgezogen (retracted).
Mein Eindruck
Auch wenn meine Recherche nur recht allgemein verlaufen ist, hat sich bei mir schon der Eindruck ergeben, dass die vier Autoren der Studie wenig mitbringen, um profunde über die Risiken einer Corona-Impfung Auskunft zu geben.
Keiner von ihnen ist als Virologe ausgewiesen, keiner lehrt oder forscht auf diesem Gebiet an einer Universität. Stattdessen erscheint mir ihre Qualifikation eher zweifelhaft. Zweien wurde auf Wikipedia Falschinformation in Bezug auf wissenschaftliche Themen vorgeworfen.
Auch wenn ich die in ihrem Paper erklärten Zusammenhänge zwischen einer Corona-Impfungen und schweren Erkrankungen nicht direkt entkräften konnte, scheinen die Autoren mir als Fachleute wenig geeignet, mich von ihren Thesen zu überzeugen. Bleibt noch die Frage, wie sie überhaupt in dieses wissenschaftliche Journal gelangt sind.
Weitere Aufklärung
Zwischenzeitlich bekam ich noch von einem Freund einen Link zu einer Seite, die zeigte, dass der Artikel schon in der Scientific Community Aufsehen erregt hatte.
https://forbetterscience.com/2022/04/20/elsevier-pandemic-profiteering-again/
Bemerkenswert dabei die Reaktion eines französischen Mediziners, der den Herausgeber der Zeitschrift scharf angriff.
Darin schrieb Jacques Robert, Professor em. für Onkologie an der Universität von Bordeaux:
Just note that this is not a scientific controversy since, for many reasons, this manuscript does not reach the standards of a scientific paper: several assertions in the Introduction are given without reference (despite the 231 references at the end of the manuscript!), emotional words such as ‘aggressively’ are used to describe the most reasonable attitude of all governments of all countries towards vaccination. The argumentation relies on hypotheses, not facts. The adjective ‘potential’ is used at 27 occurrences, the adverb ‘potentially’ at 9; however, the ‘graphical abstract’ presents a series of pathways leading from vaccines to cancer as if they were experimentally validated. […]
Diese Passage unterstreicht nochmals den entscheidenden Punkt in der Debatte um wissenschaftliche Glaubwürdigkeit. Wissenschaft ist nicht einfach eine Behauptung, die in den Raum gestellt wird (und durch den Fachausdruck Hypothese wird es auch nicht besser).
Wissenschaft bedeutet, dass man seine Behauptungen soweit belegen kann, dass sie als Fakten wahr und valide erscheinen.
Insofern steht die Vermutung im Raum, dass hier bedachter Artikel nicht unter einigen kleinen Ungenauigkeiten leidet, sondern den Tatbestand des Betrugs erfüllt.