Unter den großen Kulturleistungen des Menschen (Wissenschaft, Religion, Ökonomie und Kunst) nimmt die Kunst eine Sonderstellung ein. Bei weitgehend ungesicherten theoretischen Grundlagen produziert sie eine Ökonomie der extremen Ungleichheiten. Sehr wenige Menschen und Produkte erzielen auffällig hohe Einkommen und Preise, während eine Masse weder Einkommen noch überhaupt Aufmerksamkeit erfährt.
Niemand kann mit Sicherheit Kunst definieren
Ich denke, dass folgende These gesichert ist:
Während in einem klassifikatorischen Sinn Kunst einigermaßen sicher bestimmt werden kann (z.B. Wie viele Kunstwerke befinden sich in der Sammlung des MoMA?), bleibt sie in einem evaluatorischen Sinn unbestimmt. Keine Theorie konnte bislang ein oder mehrere Kriterien hervorbringen, nach denen mit Sicherheit belegt werden konnte, ob ein Gegenstand oder ein Ereignis Kunst ist oder nicht.
Die Genese dieses Mangels setzte in aller Deutlichkeit mit den Anfängen der modernen Kunst (um 1830) ein und setzte sich bis in die Gegenwart fort. Kristallisationspunkte dieser Entwicklung, die besondere theoretische Bemühungen nach sich zogen, waren die Fotografie und die Readymades. Aber ohne greifbare Ergebnisse.
Der Umstand, dass an Publikationen zur Theorie und zum Wesen der Kunst kein Mangel besteht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nach wie vor in ihrem Kern unbestimmt bleibt.
Wer etwas als Kunst deklariert, stellt eine Behauptung auf, die er nicht beweisen und andere nicht widerlegen können.
Kunst gleicht darin der Religion und anderen Mythen, besonders in ihre modernen Ausprägungen. Sie ist eine Art Homöopathie, die bei nicht nachweisbaren Inhaltsstoffen erstaunliche Wirkungen erzielt.
Kunst als Ökonomie der Ungleichheiten
Erstaunlich sind die ökonomischen Bedingungen der Kunst. Nach allgemeiner Vorstellung sollte ein Produkt, dessen Kern, dessen Qualität unbestimmt bleibt, durchweg niedrige Preise auf dem Markt erzielen, eben weil die Konsumenten nicht wissen, was sie genau bekommen.
Klassische Beispiele dafür sind die Fabrikarbeit im 19. Jahrhundert oder die Sweatshops in Entwicklungsländern. Das Lohnniveau ihrer Arbeiter und Arbeiterinnen war und ist gleichmäßig niedrig, weil niemand unter den Beschäftigten durch Fähigkeiten heraussticht, die bessere Bezahlung rechtfertigten. (Bis in die heutige Zeit bleibt daher als einziger Ausweg die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter, die nichts direkt an ihrem Status ändert, sondern nur über die Drohung der Arbeitsverweigerung ihre Lage verbessern kann.)
Die Kunst unterscheidet sich davon dergestalt, dass zwar die größte Anzahl ihrer Produkte billig (wenn nicht sogar unverkäuflich) und ihre Produzenten (selbst in Industrieländern) arm sind, einige wenige dagegen hohe, sogar extreme Preise und Einkommen erzielen (Pareto-Verteilung). Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erzielen dabei regelmäßig Auktionen, die jeweils neue Rekorde für schon bisher erzielte Preise eines Künstlers brechen.
Im Vergleich dazu kennt die ’normale‘ Ökonomie bei Produkten, Preisen und Einkommen zwar Schwankungen, sie bleiben aber in ausgeglichenen Märkten (Angebot und Nachfrage halten sich in etwa die Waage) eher gering und zeigen wenig Ausreißer nach oben oder nach unten.
In der Kunst dagegen gilt eine Ökonomie, die sich Begriffe und Bedingungen aus der Welt der Stars und Superstars der Popkultur (und des Sports) entleiht. Sie besagt: wenn Star, dann folgt alles weitere (Einkommen, Prestige, Ruhm und Ehre). Manchmal auch Winner-takes-it-all-Märkte genannt.
Unklar dagegen bleibt, wer oder was wann und wie zum Star wird, denn aus den schon erwähnten Bedingungen der Kunst ergibt sich, dass es weder die Eigenschaften eines Produktes, noch die Fähigkeiten einer Person sein können, die sie von anderen, gleichartigen abheben und auszeichnen. (Es ist durchaus bezeichnend, dass sich in der Welt des allgemeinen Konsums ähnliche Tendenzen zeigen. Je mehr sich Produkte angleichen, je weniger konkrete Eigenschaften sie aufweisen, die dem Konsumenten eine Kaufentscheidung ermöglichen, desto star-artiger müssen sie werden. Der Unterschied zur Kunst ist hier nur quantitativ.) Die bislang ausführlichste Darstellung dieses Zusammenhangs hat P.M. Menger mit The Economics of Creativity vorgelegt.
Es könnte alles anders sein
Stattdessen ist die Folge der Unbestimmtheit der Kunst eine grundsätzliche und alles durchdringende Kontingenz aller Entscheidungen und Umstände. Wenn niemand mit Sicherheit sagen kann, dass X besser als Y ist, dann könnte es auch genau anders herum sein. Dies trifft in hohem Maße die große Anzahl der Erfolglosen, derjenigen, die sich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit bewegen. Nahezu alles erscheint ihnen zufällig und willkürlich. Sie müssen ständig erfahren, dass die Arbeit eines Mitbewerbers ohne Angabe von Gründen ihrer eigenen Arbeit vorgezogen wird. Fragt man bei denjenigen nach, die diese Entscheidungen treffen, erfährt man häufig, sie hätten sich aufgrund der aus ihrer Sicht nahezu gleichförmigen Arbeiten nicht entscheiden können und irgendeiner Marginalie den Vorzug gegeben. (Diejenigen, die mächtig erscheinen, sind auf bestimmten Stufen der Hierarchie selbst Opfer des ‚Systems‘.)
Trotzdem scheinen Hoffnung und Wunsch, ein Star werden zu können, so groß zu sein, dass niemals ein echter Mangel an Aspiranten besteht. Auch hier nimmt die Kunst eine Sonderstellung ein. Während gerade in wohlhabenden Ländern niedrige Einkommen das direkte Produkt schlechter Chancen und widriger Umstände ausmachen, also erzwungen sind, sind diejenigen, die den Weg in die Kunst wählen, keineswegs ohne Chancen und hätten durchweg die Möglichkeit, in ’normalen‘ Berufen ein angemessenes Einkommen zu erzielen. Dies zeigt sich an zwei Umständen: zum einen erhalten die Künste beständig Zulauf aus verwandten Berufsgruppen (Architektur und Design), die offensichtlich von den widrigen Umständen, die in der Kunst herrschen nicht abgeschreckt werden. Zum anderen können Künstler, die nicht von ihrer Kunst leben können, oftmals Unterstützung aus ihrer Familie erhalten. Sie entstammen daher aus Verhältnissen, die auch eine andere Berufswahl nahegelegt hätten.
Zu ihnen gesellen sich alle anderen, die ihre erfolglose Kunstproduktion aus fremden Quellen quer finanzieren, womit sie ihre prekäre Lage weiter untergraben, denn sie beschädigen das ohnehin nur fragil existierende Marktgefüge, in dem zu viele Künstler ohne echte Nachfrage verbleiben. Sie befördern eine Überproduktion, die die Preise fortlaufend weiter senkt. Paradoxerweise, obwohl von guten Absichten geprägt, trägt auch die staatliche Kulturfinanzierung (überheblich Förderung genannt) zu diesen negativen Effekten bei. Auch sie unterstützt Künstler ohne Erfolg und verhindert durch einseitige Betonung auf Angebote einen marktwirtschaftlichen Ausgleich. (Die bei vielen Künstler vorherrschende Abneigung gegen jede Form von ‚Markt‘ dürfte auf den starken Einfluss des Kulturstaates zurückgehen.)
Schluss jetzt!
Eine grundsätzliche Änderung ist nicht in Sicht. Das Prestige der Kunst ist nach wie vor so hoch, dass viele Menschen darin verbleiben, ungeachtet der Kosten, – verbreitete Armut unter nahezu allen Beteiligten. (Hierin liegt auch der Grund, warum die fehlende theoretische Fundierung der Kunst nicht als bloß harmlose Schrulle abgetan werden kann. Kunst und Kultur haben mittlerweile durch ihre Sekundärwirkung erheblichen Einfluss auf die Gesellschaft gewonnen. Das zeigt sich besonders durch den verbreiteten ‚Kreativitätsdiskurs‘, dem ganze Stadtteile, Studiengänge, Geschäftsmodelle und letztlich Lebensentwürfe geopfert werden.)
Die in anderen Berufszweigen praktizierte gewerkschaftliche Organisation scheint in der Kunst nicht möglich. Zu unterschiedlich erweisen sich die unterschiedlichen Beschäftigungsmodelle, als dass sie sich von einer einzigen Institution vertreten ließen. (Ein Phänomen, das sich zunehmend auch in anderen Bereichen der Arbeitswelt bemerkbar macht.)
Da jedoch die ökonomische Sonderstellung der Künste wesentlich auf ihren fehlenden theoretischen Grundlagen beruht, besteht die Möglichkeit, alle zu diskreditieren, die sich in evaluatorischer Weise über Kunst äußern.
🔴 Wenn Künstler sagen, was ihre Kunst ausmacht, können sie nur allgemein und vage bleiben. (In der Regel verfahren sie auch so. Sie murmeln und nuscheln. Oder überlassen es anderen, sogenannten Experten, über ihre Arbeiten zu sprechen.) Schon hier sind Zweifel angebracht, ob es sich bei den Hervorbringungen der Künstler überhaupt um Kunst handelt. Zwar wird das initiale Werk auch in herkömmlicher Lesart vorerst als Behauptung begriffen, aber als eine, die sich auch einlösen kann. Wenn aber grundsätzlich der Kunststatus nicht bewiesen werden kann, hat auch diese Behandlung der Behauptung keinen Sinn.
🔴 Kunstkritiker und Kunsttheoretiker urteilen aufgrund unklarer Begriffe und Konzepte. Sie können weder Halt noch Verlässlichkeit anbieten. Dabei ist gerade die prospektive Beurteilung von entscheidendem Wert. Wenn ich behaupte, dass aus Verfahren A in einem Fall ein Kunstwerk entstand, dann müsste jedes Mal, wenn A eintritt das Resultat auch wieder ein Kunstwerk sein. Das wird schon allein durch die Geschichte der Kunst widerlegt. Malte ich heute wie Jackson Pollock, wäre das keine Kunst mehr. (Aber auch das kann zurückgenommen werden.)
🔴 Gremien und Institutionen, die den Wert von Kunst bestimmen und bewahren sollen, besitzen keinerlei Kriterien. Sie entscheiden vielfach ad hoc, nach Stimmungslage und persönlichen Vorlieben. Der Direktor oder die Direktorin entscheidet, was Kunst ist oder nicht. Ein Museum, das von seiner Idee der Überzeitlichkeit der Kunst verpflichtet wäre, sieht heute schon gänzlich anders aus als vor 30 Jahren. (Kunstwerke werden dabei noch nicht direkt zerstört, sondern landen im Depot.)
Wer immer aus welchem Grund sagt, was Kunst ist und was nicht, spricht ohne Legitimation. Er oder sie kann sich auf nichts berufen. Wir sollten eine solche Person nicht mehr ernst nehmen.