Der Aufbruch des Jahrzehnts

Zwei Wochenkalender in Buchform der Jahre 2012 und 2022.

Zwei Kalender der Jahre 2012 und 2022. Dazwischen 10 Jahre.

Ich möchte den heutigen Tag, den kürzesten des Jahres, zum Anlass nehmen, über die vergangenen 10 Jahre nachzudenken, die in diesem Jahr 2022 ihren vorläufigen Abschluss fanden. Sie waren für mich von dem Versuch geprägt, von Frankfurt loszukommen.

Von den 10 Jahren seit 2012 habe ich mehr als 7 in Hamburg verbracht. Die Abkehr von Frankfurt begann schleichend mit einem stetig anschwellenden Unbehagen, das schließlich in einem Tag im Juni 2012 seine Kulmination und Krise fand und in den leichten, schwerelosen Sommer im Künstlerhaus Frise in Hamburg mündete.

Der eigentliche Wendepunkt trat aber erst in Folge des Januars 2013 auf, als ich meine Aussicht auf eine Beziehung zu Frau B. begraben musste, womit die weitere Inangriffnahme des Projektes Hamburg vorerst unter einem schlechten Stern stand. Es kostete mich alle Kraft, es nach einem weiteren Sommer im Künstlerhaus Frise dann im Herbst 2013 umzusetzen. Die folgenden 2 Jahre waren von dem Versuch geprägt, in Hamburg Fuß zu fassen.

Die Krisen

Ich wäre gern in Hamburg geblieben und hätte auf die tastende Frage auf einer Bank im Grüneburgpark, ob dies im Juli 2012 mein letzter Abend in Frankfurt würde, gerne JA gesagt.

Dass es anders kam, lag in groben Zügen an drei Umständen:

  1. Der Verlust der Kunst
  2. Die Krankheit der Mutter
  3. Die Krise auf dem Immobilienmarkt

Und als 4. kam schließlich noch Corona hinzu.

Kunstverlust

Schon im Sommer 2012 bemerkte ich, wenn auch nicht in voller Ausprägung, im Künstlerhaus Frise meine Distanz zu dieser allgemein, suböffentlichen Kunstszene, die sich nicht wesentlich von der ungeliebten Frankfurter Szene unterschied. Schon in meiner Radiosendung vom 10.8. 2012 sprach ich diesen Umstand an.

Das nächste K.O. kam dann 2015 durch die Lektüre des Buchs Das Kunsturteil von Claus Borgeest, das mir eindringlich vor Augen führte, dass innerhalb der Kunst nicht mit Abhilfe zu rechnen ist. Bis heute werden ich davon getrieben. Es gibt in der Kunst keinerlei Basis, auf der ein allgemein verbindliches Urteil über Wert oder Unwert einer künstlerischen Leistung (welcher auch immer) möglich ist. Damit ist alles in der Kunst den Launen derer ausgeliefert, die aus Gründen auch immer, gerade das Sagen haben. Unter diesen Umständen konnte ich mich nicht mehr als Künstler verstehen. Einen Ersatz habe ich nicht gefunden.

Letzte Performance. Im Gespräch mit Iris Minnich im Juli 2015.

Letzte Performance. Im Gespräch mit Iris Minnich im Juli 2015.

Mit einer solchen Einstellung gelang es mir nicht mehr, in Hamburg noch Menschen zu finden, die meine Zweifel teilten. Selbst diejenigen unter den Kollegen, die dazu vielleicht einen Zugang hätten haben können, zeigten kein Interesse. Alternative Projekte wie die Konversationskunst von Kurd Alsleben erwiesen sich in den Umsetzung als zu schwierig. Auch sie scheiterte letztlich am Desinteresse der Hamburger Kunstszene.

Die Mutter

Ich hatte kaum eine eigene Wohnung in Hamburg, in Ottensen, gefunden, als meine Mutter erkrankte, von meiner Schwester in ein Heim nach Potsdam geholt wurde und in einen Zustand geriet, der dauernde Sorge von mir abverlangte. Ab dem Oktober 2015 wurde die Bundesbahn mein bester Freund und ich beständig zwischen Hamburg und Berlin hin- und hergerissen, wenn dann nicht noch zusätzlich Frankfurt dazwischenfunkte, wo ich immer noch meine Wohnung behalten hatte.

Auch wenn die absolute Zahl der Tage, die ich für die Mutter verbrachte, gering gewesen sein mag, allein der Umstand, dass jederzeit etwas passieren könnte, das meine Anwesenheit in Potsdam verlangte, brachte mich in einen Zustand ständiger Unruhe und Planungsunsicherheit. Im Grunde gab es keinerlei Termin mehr, der nicht hätte umgeworfen werden können. Allein das reichte aus, meinen Alltag in ständigem Vorbehalt zu sehen.

Der Immobilienmarkt

Seit 2012 sorgte das durch die EZB in Umlauf gebrachte Geld zu einer ständigen Aufwertung der insbesondere städtischen Immobilien, so dass schon vor der Immobilienkrise im Trend liegende Viertel wie Ottensen vollends in den Sog gewalttätiger Spekulation gerieten, letztlich aber der gesamte städtische Raum, so dass sich für mich immer stärker das Problem abzeichnete, wo ich, wenngleich keineswegs arm, die von mir angestrebte sichere Immobilie, mein Zuhause, finden und auch bezahlen hätte bezahlen können. Dass ich nach dem Verkauf des Hauses meiner Mutter, Ende 2016, dann noch auf die Idee kam, mein nächstes Heim müsste ein kleines Haus mit Garten irgendwo am Rand der Stadt werden, machte die Sache nicht einfacher. Damit stehe ich eigentlich bis heute vor dem Problem, wie sich ein Kompromiss zwischen meinen finanziellen Fähigkeiten und solchen eines immerländlicher werdenden Umkreises ausgestalten ließe, zumal ich kein Auto fahre. Hinzu kommt, das ich keinerlei Ahnung davon habe, wo ich „da draußen“ mich gerne niederließe. Wie einige kleinere Experimente erwiesen, müsste ich zwingend ein gutes Gefühl von der Gegend haben. Somit wäre ich mit Vorliebe lieber in Dänemark (was leider nicht möglich ist) als in der Uckermark oder der Wetterau.

Mein kleines Haus (Traum)

Mein kleines Haus (Traum)

Bevor ich zur Lösung aller drei Problemkreise in Hamburg finden konnte, kam dann Corona, das mir nach einem Jahr des Ausharrens schließlich 2021 mit aller Kraft verdeutlichte, dass vorerst keine Fortkommen in Hamburg zu erwarten war. Mit dazu trug die unerfreuliche Wohnlage in Ottensen bei. Schon bei Abschluss des Mietvertrags im Oktober 2014 war mir klar, dass die Wohnung für ihre Größe und Ausstattung zu teuer war. Nur wollte ich endlich aus der ungeliebten Zwischenmiete entkommen und schließlich in eigenen vier Wänden leben. Ein Entschluss, dessen Ratio ich trotz der Folgen bis heute nicht in Frage stelle. Konnte ich denn wissen, dass nach kaum 9 Monaten in der Wohnung der Zustand meiner Mutter jede weitere Veränderung vor große Herausforderungen stellen würde?

Wohin heute

Am 21.12. 2012 am Rhein

Am 21.12. 2012 am Rhein. Aufbruch von Frankfurt gen Hamburg.

Das alles liegt nun hinter mir, ohne dass ich sagen könnte, es sei vergangen. Nach wie vor beschäftigen mich der Kunstverlust, der Zustand meiner Mutter (im 8. Jahr nun!) und die Krise der Immobilienmärkte. Im Grund ist alles nur noch schlimmer geworden.

Ich möchte nicht pessimistisch klingen und täte gerne mit Rilke „Siehe, ich lebe. Woraus?“ (9. Elegie) sagen. Dennoch macht mir der Rückblick deutlich, dass 10 Jahre vergangen sind, in denen ich 10 Jahre älter geworden bin und damit Lebensentwürfe unter anderen Sternen stehen.

Ich habe vor 10 Jahren den Aufbruch gewagt. Das möchte ich nicht missen. Könnte ich heute, 2022, erneut aufbrechen? Wohin? Unter welchen Vorzeichen?

Ungewissheit bedrückt mich. Der Tag heute, der kürzeste (WSW 22:48 MEZ), war trotzdem nicht schlecht. Nach trübem Beginn kam am Nachmittag kurz die Sonne durch die Wolken.

  

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