Hölderlin – Nie

Screenshot Tweet zu einem Zitat von Hölderlin Hyperion Aber aus bloßem Verstand ist nie Verständiges

Hölderlin Tweet (Screenshot)

Die Tage bemerkte ich auf Twitter eine Zeile Hölderlins:

»Aber aus bloßem Verstand ist nie Verständiges, aus bloßer Vernunft nie Vernünftiges gekommen.« (Hyperion) (Tweet) [In meiner Insel-Ausgabe auf S.86]

Ich möchte sie zu einer weiteren Notiz über das Vermögen der Kunst nutzen. Denn es wird sofort deutlich, dass Hölderlin seine Vernunftkritik mit einer Preisung der Kunst verbindet.

Er fährt sogleich fort:

»Verstand ist ohne Geistesschönheit, wie ein dienstbarer Geselle, der den Zaun aus groben Holz zimmert, wie ihm vorgezeichnet ist.« (Es folgen weitere Invektive wie: „Aus bloßer Vernunft kömmt keine Philosophie…“)

Leider irrt Hölderlin in seiner Geringschätzung von Verstand und Vernunft. In Form der reinen Mathematik und der reinen Logik als Ausprägung der Vernunft entsteht durch formales Kalkül wiederum Vernunft. Es gehört zu den größten Leistungen der modernen Logik, wie sie durch Boole, Frege, Russel, Hilbert und Gödel entwickelt wurde, einer Funktion des reinen Verstandes zur nutzbringenden Anwendung zu verhelfen. Auf ihr bauen wiederum die Leistungen von Church, Turing und Zuse und damit die moderne Computertechnik auf.

Man mag einwenden, dass dies erst nach Hölderlins Tod geschah. Aber schon zu seiner Zeit müsste ihm die Arbeit von Descartes, Leibnitz, Pascal, Fermat, Euler und Gauß bekannt gewesen sein.

Auf meine Kritik meldete sich der Verfasser des Tweets zu Wort:

Hölderlin problematisiert hier eine einseitige Weltaneignung, die einzig auf rationale Erkenntnis setzt und sinnliche Erfahrungen außen vor lässt. Das haben Goethe, Kleist und vor allem Alexander von Humboldt ebenso thematisiert, Mathe ist eben nicht alles. (Quelle)

Die Absicht Hölderlins bemerkte ich sehr wohl, wie sie auch den gesamten Hyperion durchzieht. Man kann seine Zeilen sicherlich auch als rhetorische Übertreibung (Hyperbole) im literarischen Kontext lesen. Man bemerke das doppelte NIE, das sicherlich ganz bewußt gesetzt wurde. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die in ihr ausgelegte Präposition schlichtweg falsch ist. Vernunft kann in Form der Logik ohne Schwierigkeiten Vernunft produzieren.

Ein Problem entsteht, wenn man die Aussage Hölderlins ohne diesen Kontext zitiert. Denn dabei kommt die Gefahr auf, mit Hölderlin eine besondere Fähigkeit der Kunst (hier exemplarisch im Begriff der Geistesschönheit) zu postulieren und damit auf jenen Kurs einzuschwenken, der Hölderlin bei George, seinem Kreis und später Heidegger zu einem Kronzeugen der Antimoderne machte. Manche Verästelungen dieses Gedankenguts (Kunst vs. Vernunft) mögen sogar bis zu Adorno und Foucault reichen.

Fazit:

Künstler können irren. Sie besitzen keinen besonderen Zugang zur Wahrheit. Selbst das dichterisches Genie Hölderlin nicht.

  

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