Der Künstler im Schockzustand

Der Künstler im Schockzustand - empathisch energetische Visualisierung

Der Künstler im Schockzustand…

Die Kunst schockiert den Künstler, nicht der Künstler die Kunst.

Kürzlich entdeckte ich eine Bemerkung Allan Kaprows zu besonderen Schockmomenten, die den Künstler ergreifen könnten. Ihn und nicht die Öffentlichkeit müsse die Kunst schockieren.

So schrieb Kaprow 1964 in seinem Essay „The Artist as a Man of the World“:

Society nowadays -at least a rapidly growing part of it- pursues artists instead of exiling them. Unconsciously, it sees them as societal representatives; consciously, it is looking for diversion and status. Of this I shall have more to say shortly, but it is enough to point out that Aunt May and Uncle Jim do not always fit the philistine costumes history has assigned them. Attracted to art by its promotion in mass media, they come to an artist enthusiastically but with little grasp of what that artist is doing. Disconcertingly, they pose as hippies-ready-for-anything and want to be shocked over and over by the very self-analyses, sexual preoccupations, and raw techniques that once repelled them.

Worauf er in Parenthese die Bemerkung anschloss:

Which brings up the problem whether art should not be shocking now to the artist instead of the public…

Dass die Kunst den Künstler schockieren müsse und nicht die Öffentlichkeit, das ist eine einleuchtende und weitergedachte Interpretation der historischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts und tatsächlich genau auf mich anwendbar, so dass ich sagen kann:

Ich nehme für mich das Privileg in Anspruch, von der Kunst schockiert zu sein.

Der Schockzustand entspricht dem Gefühl und der Erfahrung, wie sie sich wenigstens in den letzten 10 Jahren (und durchaus länger) in mir verdichtet haben.

Schockierend sind für mich:

— die theoretische Beliebigkeit (also das Fehlen einer soliden Kunstdefinition), die Willkür und die daraus resultierende latente und manifeste Gewalt.

— die ökonomische Realität, die ein Großteil aller Künstler ein Leben lang in ein entwürdigendes Prekariat zwängt (ebenfalls ein Gewaltzustand). Oder in den Worten des schwedischen Künstlers Henning Lundkvist: der extrem schlechte Wechselkurs von kulturellem zu monetärem Kapital.

— die Rechtfertigungen dieser Lage als eine sinnstiftenden Form der Freiheit (der Künstleridealismus).

— die Marginalisierung der Kunstsoziologie. Entgegen der Realität eines ausgebreiteten ›kulturellen Kapitalismus‹ (s.a. F. Jameson, The cultural logic of late capitalism…, 1984).

Weitere Schrecken im Kunstsystem

— die kleinen Lügen, die im System der Kunst zirkulieren. Nur als ein Beispiel, die Behauptung „Kunst sei so wichtig“. Tatsächlich werden Gegenstände, die dieser Behauptung Rechnung tragen, besonders die zahlreichen Druckerzeugnisse, für viel Geld verkauft. Nach dem Verkauf sind sie aber schnell gar nichts mehr wert, wie ich immer wieder anhand der Kunstbücher meiner Eltern erfahren musste. Und überhaupt das erschreckende Gefühl, Teil einer Sekte gewesen zu sein.

— der Umstand, dass in meiner Studienzeit in den 1980er Jahren nahezu das gesamte Personal an der Kunsthochschule (von freier Kunst bis Visueller Kommunikation) ›links‹ war, von moderat bis scharf links. Ohne diese Einstellung zu reflektieren. Ebenfalls ein Gewaltzustand. (Im Vergleich dazu gab es im FB Philosophie ein sehr viel breiteres Spektrum, das bis nach rechts/konservativ reichte.)

— während Städte Millionen (Hamburg Elbphilharmonie) und Milliarden (Frankfurt Neubau Städtische Bühnen) für Kultureinrichtungen ausgeben können, speisen sie die Künstler vor Ort mit beschämend geringen Beträgen (+150.000€) ab. Ich weiß nicht, ob es dabei nicht noch schockierender ist, dass die Künstler dagegen keinen Widerstand leisten.

Kunst- und Literaturpreise werden vollkommen unkritisch zur Kenntnis genommen. Quasi als Naturereignisse. Ihr Wie und Warum ruft keinerlei Zweifel auf.

Arthistory is keeping me awake at night

Symbolbild. After David Wojnarowicz...

Ich habe einmal gedacht: ich habe Geld, ich bin wirtschaftlich unabhängig. Ich kann damit meine Kunst finanzieren.

Ich habe aber nicht »meine Kunst« finanziert, sondern ein krankes und perverses System.

  

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