Das Jahr 1993, mein drittes in Frankfurt, war ein Jahr der Neuorientierung. Im Dezember 1992 hatte ich endgültig Abschied vom Institut für neue Medien genommen. Meine Situation dort hatte sich stetig verschlechtert und als Peter Weibel uns Anfang Dezember in einer Nacht-und-Nebel-Aktion vom Institut aussperrte, sah ich keine Zukunft mehr dort. Nach der Rückkehr sicherte ich meine Daten und schob Weibel danach meinen Schlüssel unter der Tür durch. Versehen mit einem Zettel: „Peter, das wars jetzt.“
Wenn das Institut und Frankfurt bislang nahezu eine Einheit für mich gebildet hatten, sah ich mich zu Beginn des Jahres 1993 vor die Aufgabe gestellt, neue Wege und Zusammenhänge in Frankfurt zu finden. Einige Glücksfälle halfen mir dabei. (Von heute aus betrachtet, denke ich, ich hätte diese Krise nutzen sollen, ganz aus Frankfurt wegzugehen.)
Es folgt eine Rückschau auf mein wildes Jahr 1993:
Januar
Der Abgang vom Institut für neue Medien verlangte zwei Dinge von mir: Geld verdienen und neue Geräte finden. Man muss sich vorstellen, dass im Jahre 1993 Computer zur Bearbeitung von Grafik und Video nicht an jeder Ecke zu finden waren. Sie selbst zu besitzen, war noch extrem teuer.
Ich fand im Dezember (oder erst im Januar) die Anzeige einer Agentur in Frankfurt, die einen Grafiker suchten. Obwohl ich nicht die allerbesten Voraussetzungen hatte, wurde ich eingeladen, wobei es sich ergab, dass dem Agenturchef einige 3d-Grafiken auffielen, die ich eher als Dreingabe gezeigt hatte. (Zu verspielt, zu künstlerisch, dachte ich.) Er erzählte, dass er plane, eine Art Multimedialabor einzurichten und der Agentur neue Aufgaben zu geben. Ich sollte diesen Umschwung begleiten. Das war ein Glücksfall für mich, da ich dadurch mit genau der Erfahrung aus dem Institut zu Werke gehen konnte. Und etwas Geld gab es auch.
Februar
🔵 Anfang Februar fuhr ich zu Manu nach Wien, um den Fortgang unseres Projektes TWV zu besprechen. Die Stadt versank im Schnee. Ich wohnte sehr nett bei einem Freund, Lorenz, etwas außerhalb in Dornbach (17. Bezirk). Im Hinblick auf meine Performance im Mousonturm kaufte ich bei Emis schicke Sachen von Comme des Garçons.
🔵 Mit Glück und Hartnäckigkeit gelang es mir in Frankfurt das Atelier in der Hohenstaufenstraße anzumieten, in dem ich im August 1992 ausgestellt hatte. Es stand seitdem leer, da der Mieter gar kein Interesse an einem Atelier in Frankfurt hatte. Was für mich als Provisorium gedacht war, blieb für 20 Jahre.
🔵 Am 11. Februar eröffnete der Kunstraum Gartners in der Mainzer Landstraße. Von Annette Gloser und Dirk Paschke. Zusammen mit Schmidl & Haas der erste echte Offspace in Frankfurt, der besonders auf Aktionen, Performances und Installationen setzte. Die erste Aktion, die ich mitbekam, war ein ›Postamt‹ von Annette Gloser, das die seltsamsten Dinge auf den Postweg brachte. Gummihandschuhe, Flipflops oder Eiskratzer. Die Besucher konnten sich eins aussuchen, dass dann für sie verschickt wurde. Oder auch nicht, denn für mich wurde ohne Zuspruch in meinem Namen ein Fleischwürstchen an J.C. Ammann frankiert. Versehen mit der Aufschrift: „Musste an Sie denken.“ Da sich der Raum gerade um die Ecke meines neuen Ateliers befand, besuchte ich fast jeden Donnerstag und Samstag die Veranstaltungen dort. Sie entsprachen dem Motto des Projektes: „Erstklassige, zweiklassige, drittklassige Kunst.“ Meistens war es drittklassig und das Bier billig.
März
Meine Forschungen zum UNIX-Betriebssystem fanden ihren vorläufigen Abschluss mit einem Vortrag in Wiesbaden: „Built on the work of others.“ Dieser Sinnspruch aus dem Umgang mit der Software sollte sich als allgemeine Maxime meiner künstlerischen Arbeit erweisen.
April
Die 1991 begonnene Atelierzeit im Mousonturm ging Ende März zu Ende. Gemeinsam mit den drei Kollegen, Oliver Augst, Mathias Völcker und Wolfgang Hastert nahm ich an einer Abschlusspräsentation unserer Arbeiten teil, die wir ironisch „Anhang zum Vertrag“ nannten. Es erschien ein Booklet mit Computertexten von mir: ›Herrmann Göring – ich war niemals Rektor an der Städelschule‹. (Dem Mousonturm trauerte ich nicht besonders nach. Ich hatte über die zwei Jahre den Eindruck gewonnen, dass sie mit Künstlern wenig anfangen konnten. Der Schwerpunkt des Hauses lag mehr auf Theater, Tanz und Performance. Mir wurde auch noch in den letzten Tagen meine Videokamera aus dem halbleeren Atelier gestohlen, was die Erfahrung zusätzlich beschwerte. Bis heute werde ich den Verdacht nicht los, dass der Diebstahl etwas mit den schwierigen Vorbereitungen zu der Abschlusspräsentation zu tun gehabt haben könnte. Als hätte sich jemand an mir rächen wollen.)
Mit Freundin Inge reiste ich an Ostern von Hamburg nach Falster (Dänemark). Es war sonnig und kalt. Anfangs streikten die Fischer, so dass wir in dem kleinen Hafen Hesnäs keinen Fisch bekamen.
Juni
Unser Bandmitglied Marcel hatte einen Kontakt zur bekannten Knitting Factory in New York geknüpft und einen Auftritt dort für »freundschaft« erwirkt. Natürlich mussten wir alles selbst zahlen. Und Honorar gab es nur aus der Abendkasse, von der uns der Betreiber noch eine ‚Servicegebühr‘ abzog. Aufgrund des ungünstigen Termins am frühen Sonntagabend hatten wir vielleicht 5-6 zahlende Gäste. Trotzdem war es eine großartige Zeit in New York. Wir wohnten alle zusammen im schrägen Hotel 17. Oliver und Marcel hatten noch Kontakt zu einer Bekannten, die in New York als Tänzerin lebte. Für ihre Compagnie komponierten sie eine Musikstück, das zu einer Performance gespielt wurde.
Juli
Manu kam für 2 Wochen nach Frankfurt. Wir luden Freunde zu einer Präsentation im Atelier ein, die wir „Daten- und Infoabend“ nannten.
August
Mit der Freundin fuhr ich von Hamburg an die Nordsee. Stützpunkt war Cuxhaven, von wo wir übers Watt zur Insel Neuwerk liefen und dort zelteten. Gleich in der ersten Nacht kam ein schwerer Sturm, der den ganzen Zeltplatz unter Wasser setzte. Wir mussten zu einem Bauer in die Scheune flüchten. Der kannte das schon und hielt die Hand auf…
Oktober
Ich fuhr für 2 Wochen zu Manu nach Wien, wo ich in unserem neuen Atelier in der Westbahnstraße (ehemalige Grafikschule) logierte. Dort hielten wir analog zur Veranstaltung in Frankfurt ebenfalls einen „Daten- und Infoabend“ ab. Es kam unterdessen zu einigen Komplikationen, weil sich Manus Galerist von mir gereizt fühlte und eifersüchtig anmutende Störaktionen fuhr. Zudem hielt sich gerade der gehypte amerikanische Fotokünstler Andres Serrano in Wien auf und stieg zu einer Frau ins Bett, die ein Atelier in unserem Haus unterhielt. Da wallte in Wien die Gerüchteküche auf! Ebenfalls im Haus wohnte die Elke Krystufek, die damals aber noch nicht bekannt war. So waren wir komplett im Zentrum des Geschehens.
November
Mit Manu verbrachte ich 2 Wochen in Köln, in einer Gastwohnung im belgischen Viertel, die wir über den österreichischen Kurator Robert Fleck erhalten hatten. Zu der Zeit war Kunstmesse und eine Gegenmesse, so dass die Stadt vor Aktivität überschoss. Wir nannten unser Projekt „kölnresearch“, wozu wir mit der Videokamera herumliefen und Leute interviewten. Durch Zufall lernte Manu dort auch ihren späteren Freund kennen, was sie in dem Entschluss bekräftigte, das unerfreuliche Wien (der Galerist dort hatte sich auch nach meiner Abreise nicht mehr beruhigt und weiter intrigiert) zu verlassen. Mit einer größeren Unterbrechung in New York ist sie seitdem in Köln geblieben.
Dezember
🔵 Schon im September hatte ich in Frankfurt eine Grafikerin/Künstlerin, Michaela, kennengelernt, die mir gut gefiel. Ich glaube, die Attraktion bestand auch auf ihrer Seite, so dass ich ständig ein schlechtes Gewissen hatte, wenn ich sie traf, weil ich es auch nicht über mich gebracht hatte, ihr rechtzeitig von meiner Freundin in Hamburg zu erzählen. Auch ihr gegenüber fühlte ich mich schlecht, weil ich immer an Michaela dachte.
🔵 Nach New York war das nächste große Projekt unserer Band »Shuffle«, die vielleicht erste CD speziell für den Shuffle-Modus eines CD-Spielers konzipiert. Dazu hatten Oliver und Marcel aus unseren Konzerten 99 Mikrosounds extrahiert, die auf der CD versammelt beim Abspielen immer neu kombiniert wurden. Jede Aufführung ein Unikat. Die CD wurde am 11. Dezember im Ausstellungsraum Schmidl & Haas uraufgeführt. (Wir hatten 350 Stück aufwendig verpackt herstellen lassen. Verkauft haben wir so gut wie keine, woran auch der ambitionierte Preis von DM 49 einen Anteil hatte.)
🔵 Weihnachten verbrachte ich mit der Freundin Inge bei meinen Eltern (schweres Hochwasser am Rhein) und Silvester zusammen bei Oliver im Taunus. Er hatte dort im Frühjahr diesen Jahres ein kleines Haus gemietet, das ihm als Landrefugium dienen sollte. Die Festtage waren mir Ablenkung von der Ablenkung (Michaela).