Was leistet Kunst? – Ein Blick auf Thomas Lehnerer

Thomas Lehnerer,  Methode der Kunst, Würzburg 1994.

Thomas Lehnerer, Methode der Kunst, Würzburg 1994.

Der früh verstorbene Künstler und Theoretiker Thomas Lehnerer hat in seinem Buch „Methode der Kunst“ im ersten Kapitel eine Zustandsbeschreibung der modernen Kunst vorgelegt, die sich zum Ausgangspunkt weitergehender Fragestellungen eignet. Ich möchte hier Lehnerers Gedanken summarisch nachgehen.

Der Inhalt der Kunst ist ihre Form

Lehnerer beginnt mit der Feststellung, unstrittig wie ich finde, der Inhalt der Kunst sei ihre Form. Es folgt ein historischer Abriss der Entwicklung dieses Formgedankens in drei Abschnitten. (S. 30)

1) Neuzeitliche Kunst

Im 17. Jahrhundert entstand die Eigenständigkeit der künstlerischen Form. Die Form ergab sich aus neu entdeckten „bildnerischen Bedingungen“. Trotzdem orientierten sich Kunstwerke (Malereien) an formfremden Inhalten. Es ging noch vorwiegend um die Darstellung der „himmlischen und irdischen Wirklichkeiten“. Die Kunst war vorwiegend mimetisch. (S. 30 & 31)

(Eine ähnliche Darstellung findet sich bei Victor Burgin. Die Kunst wurde mit den Akademien theoretisch. Textgebunden. Entstehung der Historienmalerei als führendes Genre.)

2) Moderne Kunst

Die Form wird der alleinige Inhalt der Kunst. Die Kunst setzt dieses Inhalt aus ihrer eigenen Wirklichkeit und ihren eigenen Bedingungen. Es entsteht das Konzept der Autonomie.

Die Autonomie ist ein unstetes Motiv. Sie führt zur Radikalisierung und immer schnelleren Überbietung jeweils neu eingenommener Positionen. Die Avantgarde. (S. 32)

In diesem Prozess schrumpfen die Themen immer weiter, bzw. werden durch andere Felder übernommen, etwa dem Design. Der Vorrat an kunstspezifischen Problemen nimmt immer weiter ab. (S.33)

(Dazu korrespondierend Lingner. Die Kunst gewinnt immer mehr an Autonomie, bis sie sich als letzten Schritt autonom von ihrer Autonomie löst. Es folgt Post-Autonomie.)

Vorläufiger Endpunkt und erste „Lösung“ dieser Entwicklung: Minimal- und Pop-Art:

Minimal-Art als ultimative Reinigung von allen externen Bezügen, „ohne Inhalt, bloßes künstlerisches Objekt, radikal abstrakt, konkret, ohne äußeren Kontext, ‚What you see is what you see'“. (S.33)

Die Pop-Art geht genau den entgegengesetzten Weg: Inhalte werden gleichgültig, wenn jeder Inhalt möglich wird. (Daher auch der bevorzugte Rückgriff auf die Massenmedien und ihre Prozesse [Anonymität, Serialität, Identität]) (S.34)

3) Postmoderne Kunst

Für die Autonomie muss die Kunst eine Form finden, die ihr eigen ist. Eine solche Form gibt es nicht mehr. Kunst ist am Ende. (S.35)

In der Postmoderne wird alles möglich, neu kombinierbar, wiederholbar, aktualisierbar. „Die Kunst ist problemlos, sie ist be-liebig geworden.“ (S.36)

Alles geschieht nur noch innerhalb der Institution der Kunst und durch sie legitimiert. Wer außerhalb der Institution ist, ist nicht mehr sichtbar. (s. Barbara Kruger „Outside the system there is nothing.“) Die Kunst wird durch die Institution ersetzt. Das System wird umweltanfällig.

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»Was an der beliebigen Vielfalt der Inhalte und Formen aber „Kunst" ist, — in dieser Situation — überflüssig zu fragen. Denn erstens interessiert dies (in der postmodernen Euphorie) sowieso niemanden, und zweitens kann man sich (im postmodernen Weltbild) auf die Institution der Kunst verlassen, sie kann gesellschaftlich ungefragt als gegeben vorausgesetzt wer- den: Wer innerhalb der Kunstwelt (was und wie auch immer) arbeitet, der macht — so sagt man — „Kunst", wer außerhalb dieser Institution arbeitet, macht keine. Es kommt also hinsichtlich der Frage: „Was ist Kunst?" nicht mehr darauf an, was, warum und wie man künstlerisch arbeitet, sondern lediglich auf den gesellschaftlichen Kontext: Der Insider ist eben „in".

Dadurch wird das gesellschaftliche System der Kunst auf Dauer selbst aber hohl und unspezifisch. Wenn die einzelnen Operationen innerhalb eines Systems den Unterschied von System und Umwelt nicht mehr an ihnen selbst prozessieren können, wenn Künstler innerhalb ihrer Arbeit nicht mehr zu sehen in der Lage sind, was an ihrer Arbeit Kunst ist, dann wird das gesamte System umweltanfällig. Dann werden zunehmend andere kunstfremde Kriterien den Weg, die Methode und die Rezeption der Kunst bestimmen. Dann werden ökonomische, politische, moralische, religiöse Interessen den Künstler nicht nur begleiten, seine Arbeit nicht nur motivieren, sondern inhaltlich bestimmen. Die Welt der Kunst mag dann nach außen hin blühend erscheinen, die Umsätze mögen steigen, innen aber ist sie tot.« (S. 36)

Was folgt aus der Beliebigkeit?

Im Abschnitt 4 (Methodologie der Beliebigkeit, ab S. 37) untersucht Lehnerer welche Folgen sich für die Kunst aus der postmodernen Beliebigkeit ergeben. Welche Möglichkeiten gibt es, auf sie zu reagieren. Lehnerer zeigt wiederum drei Optionen auf:

a) Konservativismus

Man macht einfach Kunst, wie man schon immer Kunst gemacht hat. Man hält sich an Bekanntes und Bewährtes. Dieses Verfahren sei, so Lehnerer, letztlich unwahr. Man mache damit gar keine Kunst, sondern male einfach nur ab. (Willi Baumeister kommentierte ähnlich: Realismus sei, das zu wiederholen, was große Künstler originär entwickelt hätten.)

Der Konservativismus kennt drei Strategien der Immunisierung: 1) es wird behauptet, es handele sich gar nicht um Kunst, sondern um ein Genre, wie Aquarell- oder Tuschmalerei. 2) man betont die Pluralität und das „fröhliche Nebeneinander“ aller Stile. 3) man verweigert das Nachdenken. Man will sich mit den Inhalten und Widersprüchen der modernen Kunst nicht auseinandersetzen. (S.38-40)

b) Dezisionismus

„Wenn ich es Kunst nenne, dann ist es Kunst.“ (Donald Judd, zit. n. Kube Ventura, 2002, S.100)

Der Mangel an Gründen und Begründung wird wird durch subjektive Entschiedenheit (Dezision) ersetzt. „Kunst ist das, wozu der Künstler steht, gleich was er macht.“

„Der Dezisionismus bedarf keiner Theorie. Denn was und wie ein Künstler arbeiten soll, ist durch dessen souverän-subjektive Entscheidung bestimmt, nicht durch Überlegung.“ (S.41)

Als Konsequenz dieses Verhaltens, das in der Person des Künstlers zu ruhen scheint, wird genau das Gegenteil erreicht. Kunst wird einer ihr fremden Wirklichkeit ausgesetzt und überantwortet. Der Künstler liefert sich ihr aus. Andere bestimmen über ihn. (S.42)

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»Dezisionistisches Verhalten in der Kunst führt zur „Kolonialisierung der künstlerischen Lebensweit“ durch die Künstler selbst. Indem sie ihre eigenen zufälligen und privaten Motivationen als den wesentlichen Sinn von Kunst ausgeben, liefern sie die Kunst einer kunstfremden (nämlich ihrer privaten Interessenslage) aus. Künstler, die sich ihrer Grundhaltung dezisionistisch verhalten, sind daher nicht nur kompromißlose) Gegner untereinander, sondern sie sind, sage ich, objektiv Gegner der Kunst. Damit sind sie aber weit entfernt, auch Kritiker postmodernen Kunstszene zu sein, Denn sie setzen, ähnlich dem Konservativismus, schlicht die Institution der Kunst und die entsprechende Vielfalt künstlerischer Möglichkeiten, die ihnen die moderne Gesellschaft bietet voraus. Aus der Vielfalt muß der Künstler (wie im Kaufhaus) nur mit alle Entschlossenheit auswählen. Der Künstler ist König. Was das aber überhaupt ist — ein „Künstler“ — das bleibt ihm selbst verschlossen, andere (die Institutionen) haben das vermeintlich für ihn geregelt.« (S.42)

c) Nachdenklichkeit

Wenn scheinbar alles und nichts mehr geht, so bleibt als letzte Option, diese Situation zu reflektieren. Lehnerer fragt: „Was kann ich als Künstler heute tun?“ Die Antwort: Nachdenken.

Als Ergebnis, als Lösung bleibt es vage, so Lehnerer, dass vorerst auch nicht gesagt werden könne, wie Kunst konkret gemacht werden solle. (S.43)

Alle schönen Worte können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine künstlerische „Methodologie der Nachdenklichkeit“ ihrem nach vage (latent be-liebig) bleiben muß. Sie kann nicht sagen, was und wie etwas in der Kunst konkret gemacht werden soll. Denn sie hat ihrem Wesen nach (noch) keinen bestimmten Begriff davon, was Kunst ist. Sie ist Anleitung zur Suche, ohne zu wissen, was gesucht ist.

Lehnerer schließt seine Betrachtung der postmodernen Beliebigkeit mit den wenig optimistisch stimmenden Gedanken:

Ist für eine Methodologie — auf alle drei Möglichkeiten (a.,b.,c.) bezogen — nicht klar, was an dem „Was und Wie“ des Kunstmachens eigentlich „Kunst“ ist, dann ist es nicht nur innerhalb einer solchen Theorie im Prinzip beliebig, welche Aktivitäten zur Kunst gerechnet werden, und welche nicht, sondern die Methodologie selbst ist dann ihrem Wesen nach beliebig. Die inhaltliche Ausgestaltung der Künstlertheorie ist auf diese Weise (im Prinzip) kunstfremden Unternehmen und Interessen überlassen: „Anything goes“ sowohl in der Kunst als auch in der Kunsttheorie, wobei man dann allerdings nicht einmal mehr sagen kann, was das eigentlich bedeuten soll: „in der Kunst“. Es bleibt daher die Frage: „Was ist Kunst?“

Im weiteren Verlauf des Buchs, so scheint mir, verlässt Lehnerer der vorher gefasste Mut. Anstatt mit den erreichten Erkenntnissen die Kunst zu überwinden, fällt er auf bereits bestehende Positionen zurück, wenn er etwa über Ästhetik, Subjektivität und Sinnlichkeit räsoniert.

So unbefriedigend die postmoderne Situation sein mag, scheint es mir schwerlich vorstellbar, noch einmal hinter sie zurückzugehen.

  

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