In den Fotoalben unseres Lagers in Neukölln fand ich diese Fotografie meines Vaters als junger Mann. Seinem Alter nach in den ausgehenden 1950er Jahren. Möglicherweise in Paris.
Zu den Familiensagen gehört die Geschichte, dass mein Vater nach dem Abitur nach Paris reiste, um sich dort an der Sorbonne einzuschreiben. Er wusste aber nicht, dass die Universität eine Aufnahmeprüfung verlangte. Angeblich hatte er schon bei einem älteren Herrn ein Zimmer angemietet.
An dieser Überlieferung sind zwei Dinge auffällig. Konnte es sein, dass mein Vater vollkommen unvorbereitet nach Paris reiste? Auch in der Zeit vor dem Internet muss es doch Wege gegeben haben, um sich über die Zulassungsvoraussetzungen einer ausländischen Universität zu unterrichten. Der Entschluss, in Paris zu studieren, war doch keineswegs ein leichtfertiger. Dem mussten doch Vorbereitungen vorangehen. Zudem gehe ich davon aus, dass mein Vater kaum französisch sprach. Er war in Bonn, also in der amerikanischen Besatzungszone zur Schule gegangen, wo Englisch die dominante Fremdsprache war. Noch in meiner Kindheit, Anfang der 1970er Jahre, konnte ich bei den Urlauben in Frankreich bemerken, dass mein Vater sich mit der französischen Sprache schwer tat. Ganz anders als meine Mutter, die in der französischen Besatzungszone aufgewachsen war. Ihr ging dafür das Englische ab. Wie konnte es also sein, dass jemand mit geringen Sprachkenntnissen gleich an einer Universität studieren wollte? Das war sicherlich schon zu dieser Zeit nicht selbstverständlich.
Vielleicht war es ja so, dass mein Vater nur zu Informationszwecken nach Paris gereist war und dort feststellen musste, dass der Zugang zur Universität Sorbonne einige Anstrengungen abverlangte. Vielleicht hat er auch nur Ferien in Paris gemacht und hat sich dabei die Sorbonne anschauen wollen? Im Nachhinein wurde daraus dann eine Geschichte, die ihm einen unverdient tragischen Unterton verleiht: in Paris gescheitert.
Mir kommt ein weiterer Gedanken, dass hier eine biografische Metaerzählung wirkt. Mein Vater wollte als mehr erscheinen als der begabte Sohn aus einer Beamten-Mittelstandsfamilie. Dazu passte die von ihm selbst mehrfach kolportierte Absicht, eigentlich Geschichte anstatt Jura studiert haben zu wollen. Nur die damals, Anfang der 1960er, sehr schlechten Aussichten auf eine Lehrstuhl hätten ihn davon absehen lassen. So könnte man es fassen: ja er wollte. Wollte an einer renommierten Universität studieren. Wollte ein Fach nach seinen Neigungen studieren. Aber es ging nicht. Er wurde stattdessen Jurist.
Das ist meine Interpretation. Nachträglich lässt sich das nicht mehr belegen.