Zu den kaum hinterfragten Einbildungen in der Kunst gehört auch die eben erst in meiner Radiosendung thematisierte Feststellung, dass das Leistungsprinzip in der Kunst keine Rolle spiele.
Was meint Leistungsprinzip?
Mit Leistungsprinzip meine ich nicht nur das Zustandebringen einer Aufgabe, die für sich genommen herausfordernd ist, sondern, dass die Ergebnisse meines Wirkens als vergleich- und berechenbar betrachtet werden. Im Kern liegt ihm die alte Formel „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ zugrunde.
Mehr dazu: Leistungsprinzip – Leistungsgesellschaft – Meritokratie – Transparenz
In der herkömmlichen Arbeitswelt würde folgendes gelten: Wenn ich am Band in einer Stunde 4 Autos zusammensetze, dann erwarte ich den gleichen Lohn wie ein Kollege, der auch 4 Autos in einer Stunde zusammensetzt. Sollte sich ein Lohnunterschied ergeben, so müsste (wenigstens der Theorie nach) erklärbar sein, worauf er beruht.
In der Kunst gilt das nicht.
Dabei ist weniger bemerkenswert, dass es so ist, als wie es dazu gekommen ist. Menschen kommen nicht als Künstler auf die Welt. Sie werden dazu gemacht. Sie werden (in unseren Breiten) mit dem Leistungsprinzip sozialisiert, gehen dann auf die Kunsthochschule und im Anschluss, nach Ende des Studiums, ist der Glaube an das Leistungsprinzip weg.
Das zeigt sich nicht an der allgemeinen Einstellung der Künstler, viel mehr am Umstand, dass so gut wie nie Beschwerden an die Öffentlichkeit dringen, die die Bezahlung oder die sonstige Behandlung von Künstlern zum Gegenstand haben. Es gibt auch keine Streiks und die Mitgliedschaft in Berufsverbänden ist unter Künstlern ebenfalls sehr gering ausgeprägt.
Was tut die Kunsthochschule dazu?
Wenn ich an meine eigene Zeit auf der Kunsthochschule, Mitte der 1980er Jahre, denke und mich frage, welchen Beitrag sie dazu leistete, den Glauben an das Leistungsprinzip abzuwerten, dann fällt mir keine direkt benennbare Lehre oder Wirkung ein.
Am Anfang des Studiums standen praktische Fragen im Mittelpunkt, die eher das Herstellen von Kunstwerken zum Gegenstand hatten. Wann ist ein Bild oder ein Objekt gut und woran merke ich das? Theoretische Unterweisungen, die etwa das Ethos des Kunstmachens, in dem etwa das Leistungsprinzip behandelt worden wäre, ansprachen, gab es so gut wie gar nicht. Wenn, dann vielleicht noch Kunstgeschichte.
Wie die praktischen Fragen im Laufe des Studiums abstrakter wurden und zunehmend auch den Außenraum der Hochschule, also im Falle des Ausstellens in externen Zusammenhängen, wie sie sich zum Abschluss hin ergaben, mit in den Blick nahmen, kam sicherlich irgendwann auch mal das Leistungsprinzip wenigstens zur Sprache. Schließlich bemerkte man als Student auch irgendwann, dass weder in der Hochschule noch ‚da draußen‘ alle, die mit Kunst zu tun hatten, gleich waren und gleich behandelt wurden.
Mir fällt ein konkretes Ereignis ein:
Gleich zu Beginn des Studiums liefen wir bei Professor Seitz auf. Er war einer der beiden Lehrer in der Grundausbildung. Einige von uns, frisch von der Schule, stellten ihre Teilnahme an einem schulischen ‚Kunstleitungskurs‘ heraus. Damals nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit an Gymnasien. Daraufhin schnaubte Professor Seitz: „Leistungskurs! Hach! Kunst hat mit Leistung nichts zu tun! Das müsste doch Mußekurs heißen.“
Der weitere Weg an der Kunsthochschule war daher weitgehend von der Abwesenheit von Anforderungen geprägt. Verglichen mit einem schon eher moderat fordernden geisteswissenschaftlichen Studium, fehlte im Kunststudium beinahe jeder Leistungsnachweis. Es gab kaum Scheine, keine Klausuren und natürlich keine Noten. Überhaupt gab es wenig ausgeprägte Wertungen. Die Professoren sagten weder Gut noch Schlecht. Meistens hielten sie sich in einer vagen Mitte auf, die großen Spielraum für Interpretationen bot. Oftmals saßen wir in der Mensa zusammen und grübelten, was der Prof. mit dieser oder jener Äußerung genau gemeint haben könnte. Peter Weibel sagte zu jeder studentischen Arbeit empathisch: „Sehr gut, sehr gut, sehr gut!“ Wir warfen ihm später vor, sich damit nur vor einer echten Auseinandersetzung gedrückt zu haben.
(Wir sollten vielleicht noch anmerken, dass die konkrete Bewertungen an der Kunsthochschule wahrscheinlich deswegen fehlen, weil sie in der Kunstwelt außerhalb der Hochschule keine Rolle spielen. Keine Galerie nähme einen Künstler, bloß weil er im Diplom eine Eins hatte. Es zählt allenfalls noch die Person des Lehrers.)
Richtig daneben zu liegen oder gar zu scheitern, erwies sich als äußerst schwierig. An manchen Hochschulen gab es nach 4 Semestern eine Art Zwischenprüfung. Wer dort ausfiel, hatte oftmals noch viele Möglichkeiten, das Studium doch fortzusetzen. Ich erinnere einen Professor, der sich mit folgender Bemerkung weigerte, Studenten zu hart zu benoten: „Wer schon das Risiko, Künstler werden zu wollen, auf sich genommen hat, darf von mir nicht dafür bestraft werden.“ (Im Nebeneffekt schob das System für einige Studenten die Einsicht, mit dem Kunststudium wirklich falsch zu liegen, über Jahre hinaus. Ich hatte einen Mitbewohner, dem erst nach Abschluss klar wurde, dass er nicht für die Kunst taugte. Da war er schon 27. Er begann eine Therapie und studierte nochmals Architektur.)
Schrittweise entwöhnt
Diese knappen Einsichten aufgegriffen, lässt sich vielleicht präventiv sagen, dass die Abwertung des Leistungsprinzip an der Kunsthochschule auf einer schrittweisen Entwöhnung oder negativen Konditionierung beruhte. Wer über Jahre fast keinerlei Anforderungen ausgesetzt war, die Folgen zeitigten (Ausschluss aus dem Studium), gewöhnte sich irgendwann daran, dass Leistung unwirklich wurde. Im Vergleich wird Medizinstudenten schon im ersten Semester die Wichtigkeit jeder einzelnen Klausur für den Studienerfolg bedeutet. Wer darauf nicht eingeht, sieht sich schon im ersten Drittel des Studium mit ernsthaften Schwierigkeiten konfrontiert.
Im Kunststudium kam, entsprechend Prof. Seitz‘ Diktum, eine flauschige Wohlfühlatmosphäre hinzu. Alles hatte seine Zeit. Wenn nicht heute, so dann morgen. Eine zeitliche Strukturierung des Studiums fehlte fast völlig. Irgendwann waren alle fortgeschrittene Semester. Selbst eine erfolgreich bestandene Abschlussprüfung musste einen nicht zwingend von der Hochschule verweisen. Sofern manche ihr Raumangebot nicht als günstigen Atelierraum verstanden hatten, der ihnen wie selbstverständlich zur Verfügung stand, konnten sie immer noch die Werkstätten nutzen. Gelegentlich über Jahre.
Alle in Geiselhaft
Zuletzt prägte vielleicht alle der Umstand, dass an der Kunsthochschule kaum Fähigkeiten vermittelt wurden, die im Leben außerhalb der Hochschule von Nutzen waren. Selbst den Kunsterziehern, die später einmal an einer Schule arbeiten sollten, wurde nichts beigebracht. Ihre Qualifikation für den Lehrberuf ergab sich nur aus einer anders gearteten Prüfung, dem Staatsexamen, die allenfalls Leistung suggerierte. Insofern nahm dieses Defizit des Studiums alle in Geiselhaft. Wer wollte sich ernsthaft auf Leistung berufen, wenn er selbst nichts konnte?
In der Visuellen Kommunikation, die ja wenigstens den Anschein hatte, als könnten die Studenten da etwas lernen, fanden sich hier und da solche, die nach konkret vermittelbaren Fähigkeiten fragten. Etwa in der Typografie oder den Druckverfahren. Sie hatte vielleicht gehört, dass das einmal in der Welt der Agenturen von Nutzen sein könnte. „Damit kannst Du an die Armgartstraße (die Fachhochschule) gehen…“, beschied ihnen dann boshaft der Professor. Markanter noch als in der freien Abteilung wurde damit der Nimbus des Künstlers und höheren Weihen in Anspruch genommen und verteidigt. (Was nebenbei wiederum einen subtilen Minderwertigkeitskomplex im Fachbereich dokumentierte, denn in der Freien Kunst hatte man derartige Deutlichkeiten nicht nötig.)
Eher subtil aber effektiv
Die Kunsthochschule, so können wir vielleicht als erstes Ergebnis feststellen, diskreditiert das Leistungsprinzip nicht offen und explizit. (Hin und wieder, gerne bei festlichen Anlässen, wird jedoch darauf hingewiesen, dass man nicht zu einem bestimmten Beruf ausbilde.)
Sie blendet die Studenten eher langsam aus der sie umgebenden Wirklichkeit aus und hüllt sie in eine Atmosphäre der Leistungsabwesenheit, der ein lockeres Vokabular der Muße und der Beliebigkeit eifrig Beistand leisten. Dies vielleicht sogar in bewusstem Gegensatz zum ersten und oft abschreckenden Eindruck, den die Kunsthochschulen ihren ersten Besuchern vermitteln (Ich erinnere noch die endlosen leeren Gänge. Die vielen Türen, die verschlossen blieben, so dass ein großes Gefühl der Fremdheit entstand. Man beachte dazu die Bilder, die Kunsthochschulen von sich auf ihren Webseiten zeigen.)
Ähnlich einem Dealer, der die Kunden nicht sofort mit der harten Wirklichkeit des Drogenkonsums konfrontieren möchte, schleicht sich das Prinzip Kunsthochschule in kleinen Schritten in das Bewusstsein der Studenten ein. Viel ist von Freiheit die Rede. Frei von mehr als frei zu. Zwang ist böse. Alles nur ein Angebot.
Die Kunsthochschule wirkt über den Zeitraum der Ausbildung hinaus. Ihre Absolventen, die sich dann Freie Künstler nennen, sind mit ihrem Prinzip soweit vertraut, dass sie ihr eigenes Scheitern Studienerfolg nennen.
In einem zweiten Schritt müssten wir dann erklären, wie sich die Abwertung des Leistungsprinzips außerhalb der Hochschule formiert und erhält.
[Update: Die Dialektik von ›Leistung‹ und ›Erfolg‹ herausarbeiten. Siehe Reckwitz und Neckel.]